Kalter Weihrauch - Roman
und kalten Füße, Pestallozzi rieb sich die Handgelenke. Hatten die früher auch so weh getan bei einem solchen Sauwetter? Wie begann eigentlich Rheuma?
Zum Glück war der Verkehr spärlich geworden. Wer jetzt nicht unbedingt rausmusste, der blieb lieber im Warmen. Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist, der bleibt es lang. So oder so ähnlich. Von wem war dieses Gedicht nur? Von Rilke? Eines der wenigen, das ihm in der Schule gefallen hatte. Und das von Ringelnatz. Ich habe dich so lieb, ich würde dir ohne Bedenken eine Kachel aus meinem Ofen schenken. Komisch, was man sich merkte, nach so vielen Jahren.
Leo setzte zum Überholen an, offenbar war er bereits einem Nervenzusammenbruch nahe, weil sich der Wagen vor ihnen penibel an die Geschwindigkeitsbeschränkung hielt. »Warmduscher am Steuer«, zischte Leo, als sie den Golf überholten, Pestallozzi schüttelte ärgerlich den Kopf. Leo mit seinen gewagten Manövern, der würde sie beide noch einmal in ordentliche Schwierigkeiten bringen. Dem musste man einmal …
Pling machte es in Pestallozzis Hinterkopf. Er beugte sich nach vorn und runzelte die Stirn. Was war es nur gewesen, woran hatte ihn diese Situation bloß erinnert? Leo und seine …
»Leo, kannst du dich noch erinnern?«, sagte Pestallozzi und wandte sich dem Jüngeren zu. Seine Stimme klang plötzlich wieder so frisch und ausgeruht, dass Leo verblüfft den Kopf wendete. »Woran?«
»An diese Situation! Na du weißt schon! Das ist doch erst wenige Tage her! Wie wir diesen roten Wagen überholt haben, den du geschnitten hast, kannst du dich nicht erinnern? Wie wir zur Gemeindeversammlung gefahren sind! Das war doch ein Chrysler! Na, fällt bei dir der Groschen?«
Aber Leo schüttelte nur ratlos den Kopf. Er überholte so viele Wagen, er schnitt so viele von ihnen. So viele Fahrer ballten die Faust hinter ihm und schimpften seinem Heck hinterher. Wie sollte er sich da an einen einzelnen erinnern?
»Sorry, Chef«, sagte Leo, »aber ich weiß beim besten Willen nicht, was du meinst!«
»Schon gut«, sagte Pestallozzi, »es war nur so ein Gedanke.«
IV
Der Anruf kam zwei Tage später. Er hatte sich schon rasiert und einen Kaffee getrunken, löslicher Arabica aus dem Glas mit zwei Löffeln Zucker. Sehr gesund. Und jetzt stand er im Vorzimmer und zwängte sich in seinen alten Mantel, den der Leo immer mit schiefen Blicken bedachte, das hatte er sehr wohl bemerkt. Aber der zerknautschte Lappen war einfach so herrlich bequem, und seine Taschen steckten immer wieder aufs Neue voller Überraschungen: Büroklammern, extrascharfe Hustenzuckerln, Pflaster. Einmal hatte er im Herbst in der linken oberen Brustinnentasche eine eingerissene Kinokarte gefunden und sich beim besten Willen nicht erinnern können, dass er im vergangenen Jahr einen Film angeschaut hätte. Aber vielleicht war er ja auch nur im dunklen Kino gesessen und hatte gegrübelt, wie so oft. Wie eigentlich immer. Das Handy in der Sakkotasche brummte, er kramte danach und hielt es sich endlich ans Ohr. »Pestallozzi.«
»Herr Chefinspektor? Entschuldigen Sie, hoffentlich habe ich Sie nicht aufgeweckt! Hier ist die Marion, die Marion Kaserer. Aber Sie haben gesagt, dass ich Sie immer anrufen kann, zu jeder Tageszeit, und da hab ich mir gedacht, ich …« Die junge Frau verstummte, ihre Stimme klang zaghaft und ängstlich, gar nicht mehr nach der kessen Person, die den Männern am See den Kopf verdrehte.
Pestallozzi hielt inne, einen Arm halb im Mantelärmel. »Guten Morgen, Frau Kaserer! Das ist überhaupt kein Problem, bitte glauben Sie mir! Ich bin schon seit über zwei Stunden wach und gerade auf dem Weg zur Arbeit. Ganz im Gegenteil, ich freue mich über Ihren Anruf. Ihnen ist bestimmt noch etwas eingefallen, nicht wahr?« Er versuchte, so freundlich und, ja, väterlich zu klingen wie nur irgendwie möglich. Der Kaserer Marion war etwas eingefallen, oder sie hatte sich doch noch entschlossen, etwas preiszugeben, das sie wusste. Aber sie war sich nicht ganz sicher und durfte auf keinen Fall verschreckt werden.
»Genau«, sie klang schon ein wenig selbstbewusster. »Ich hab mich noch an etwas erinnert. Ich denk ja die ganze Zeit über nichts anderes nach. Die arme Suse. Ich kann gar nicht mehr schlafen. Und da ist mir heute Nacht eingefallen, dass wir einmal über diesen Typ geredet haben, von dem ich Ihnen erzählt habe, na, Sie wissen schon, der mit der Brille. Und ich hab zur Suse gesagt, dass ich ganz
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