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Kalter Weihrauch - Roman

Kalter Weihrauch - Roman

Titel: Kalter Weihrauch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gmeiner-Verlag
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man nicht weiter. Die Frau Minister hat mir in einem Vieraugengespräch vor meiner Abreise ausdrücklich zu verstehen gegeben, dass dieser Fall absolute Priorität besitzt. Denn …«, an dieser Stelle legte Woratschek eine dramatische Pause ein, die offenbar seine Zuhörerschaft aus ihrem Dösen wecken sollte, »… es hat nicht nur das Büro des Herrn Kardinals größtes Interesse an seiner Klärung signalisiert, sondern sogar …«, Woratschek blickte zur geschlossenen Tür und senkte die Stimme, Grabner öffnete endlich wieder seine Augen, »… allerhöchste Kreise in Rom. Deshalb …«
    »Und deshalb sind Sie auch hier, Kollege Woratschek«, unterbrach Grabner den Redefluss. »Wenn wir jetzt etwas konkreter werden könnten?«
    Woratschek blickte eine Sekunde lang irritiert drein, dann fing er sich wieder. »Selbstverständlich, sehr gern. Ich wollte nur die Stimmungslage in Wien skizzieren. Aber nun zum Täterprofil. Erstens: Wir können davon ausgehen, dass es sich um einen männlichen Täter handelt. Um einen Mann im Alter zwischen 45 und 60, der …«
    Pestallozzi zog seinen Spiralblock aus der Jackentasche und angelte einen Kugelschreiber hervor, Woratschek sah es sichtlich mit Wohlgefallen. Endlich wurde er ernst genommen, und dieser verschnarchte Inspektor begann aufzuwachen. Dem offenbar das Glück hold war, aus welchen Gründen auch immer, denn nur so war es zu erklären, dass der die heikelsten Fälle der vergangenen Jahre gelöst hatte. Nun ja, natürlich nicht alle, aber mehr als die Hälfte und das sozusagen im Alleingang. Mit dieser schläfrig-höflichen Tour, die einen echt auf die Palme bringen konnte. Aber diesmal würde er ihn kleinkriegen. Clemens Woratschek zupfte an seinen Manschetten, eine Geste, die er sich von Prinz Charles abgeschaut hatte, und dozierte weiter: »… einen Mann, der mit großer Wahrscheinlichkeit in seiner Kindheit Erlebnisse im Umfeld der Kirche hatte, die sich zu einem Trauma verfestigt haben. Und wir können, ja wir müssen davon ausgehen, dass vor nicht allzu langer Zeit ein Ereignis im Leben dieses Mannes stattgefunden hat, das wir als Auslöser für die beiden Taten ansehen können. Wobei …«
    Pestallozzi dachte angestrengt nach, dann begann er mit der ersten Linie. Als Kind hatte er einmal im Fernsehen einen Bericht über antike Tempelanlagen gesehen, und die Mäanderreliefs an den Wänden hatten ihn völlig fasziniert. Simple Linien und Ecken, die sich ineinander verzahnten und so weitergeführt werden konnten bis in alle Ewigkeit. Er liebte Mäander und zeichnete sie immer, wenn er nachdachte oder wenn er sich fürchterlich langweilte oder wenn er nicht aus der Haut fahren wollte, weil …
    »Kollege Pestallozzi«, sagte Grabner sanft, »wie lautet Ihr Kommentar zu diesen ersten Ausführungen vom Kollegen Woratschek?«
    Pestallozzi klappte den Spiralblock zu. »Sie gehen also davon aus, dass beide Morde von ein und demselben Täter verübt wurden, sehe ich das richtig?«
    »Unbedingt.« Woratschek entfernte eine Fluse von seinem Anzugbein.
    »Aha. Aber ein Trittbrettfahrer wäre doch …«
    »Ich wiederhole es noch einmal, Herr Pestallozzi: Ein schwer traumatisierter Mann hat ein Ventil gefunden, um seinen Schmerz zu lindern. Kurzfristig. Denn die knappe Aufeinanderfolge der beiden Taten lässt befürchten, dass es schon bald wieder zu einer solchen Handlung kommen könnte. Vielleicht sind die Erinnerungen des Täters ja intensiv mit der derzeit herrschenden Jahreszeit verknüpft. Mit dem Advent, mit Weihnachten. Und durch ein Ereignis, von dem wir noch keine Kenntnis haben, ist es dem Täter nicht mehr länger möglich, seine seit Langem schwelenden Aggressionen zu steuern oder zu unterdrücken.«
    »Das klingt außerordentlich interessant, Herr Doktor Woratschek. Und wie kommen Sie auf die Eingrenzung des Alters, die Sie genannt haben?«
    Woratschek blickte wohlwollend auf Pestallozzi. »Nun, nach den Enthüllungen der letzten Zeit kann man davon ausgehen, dass die Altersgruppe der heute 45- bis 60-Jährigen am stärksten von pädagogischem Fehlverhalten in kirchlichen Institutionen betroffen ist. Ich könnte mir einen Zögling aus einem Internat in der näheren Umgebung vorstellen. Denn nach Beurteilung beider Fundorte müssen wir ganz eindeutig einen ortskundigen Täter in Erwägung ziehen.«
    »Gewiss.«
    Pestallozzi lehnte sich wieder zurück und verstaute Spiralblock und Kugelschreiber in seinem Sakko. Grabner schlug die Hände zusammen:

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