Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kalter Weihrauch - Roman

Kalter Weihrauch - Roman

Titel: Kalter Weihrauch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gmeiner-Verlag
Vom Netzwerk:
Verputz, jede zweite Halle schien ein Outletcenter zu sein. Sie passierten einen pompösen Kreisverkehr, überholten einen rostigen Tiertransporter, und dann waren sie auch schon in Ungarn. Der erste Ort kam gleich nach der Grenze, ein endlos langer, unaussprechlicher Name auf einem grünen Schild.
    »Igen heißt Ja«, sagte Leo. »Das hat mir der Habringer erzählt.«
    »Ich weiß«, sagte Pestallozzi. Sie versuchten, ein paar Witze über Ungarisch zu machen, aber dann ließen sie es wieder bleiben. Irgendwie war heute kein Tag für Späßchen. Zwischen Häusern, die oft nur Hütten waren mit schwarzen Ofenröhren, aus denen der Rauch quoll, standen protzige bonbonfarbene Villen, von Mauern und schmiedeeisernen Zäunen umgeben und bewacht von scharfen Hunden. Die Schilder mit zähnefletschenden Schäferhunden neben den Toren waren jedenfalls unmissverständlich. Leo fiel eine Reportage ein, die er einmal im Spätabendprogramm gesehen hatte. Über österreichische Rentner, die es sich in Ungarn und noch weiter östlich gut gehen ließen, sich mit ihrer kleinen Pension ein Haus samt Garten leisten konnten und eine junge Frau dazu. Leo schüttelte sich, Pestallozzi sah ihn von der Seite an: »He, du wirst mir doch nicht krank?« Aber Leo schnaubte nur.
    Ihr Ziel, Möschömöschmarosch oder so ähnlich, entpuppte sich als erstaunlich adrette Kleinstadt. Sie fuhren durch einen Vorort mit gepflegten Gärten, dann kamen die ersten Ampeln und schließlich der Hauptplatz, der in eine gepflasterte Fußgängerzone mit den obligaten Blumenkübeln und Gartenbänken mündete. Quer über die Fußgängerzone waren Lichterketten gespannt, über die roten Ziegeldächer ragte ein Kirchturm in den Winterhimmel. Sie parkten den Skoda in einer Seitengasse, Verbotsschilder waren keine zu entdecken. Im Erdgeschoss machte sich jemand an den Spitzengardinen zu schaffen, Leo hätte der neugierigen Person gern den Stinkefinger gezeigt, eine international verständliche Geste, aber der Chef sah heute wieder mal ziemlich streng drein, also ließ er es bleiben.
    Das Büro von Schwester Annunziata sollte gleich neben der Kirche sein. Sie stapften durch die Fußgängerzone, eisiger Wind pfiff ihnen entgegen, kein Mensch saß auf den Bänken oder bummelte an den Schaufenstern vorbei. Drogerieketten und Supermärkte wie zu Hause säumten die breite Straße, ein riesengroßes Plakat wies auf Deutsch den Weg zu einer Zahnklinik. Ein smarter braungebrannter Doktor im weißen Kittel lachte inmitten seines Teams, die Assistentinnen sahen alle aus wie Schönheitsköniginnen. Leo befühlte seinen hintersten Backenzahn rechts oben mit der Zungenspitze. Den sollte er sich einmal anschauen lassen. Aber übernahm die Krankenkasse eigentlich auch …
    »Da vorn müsste es sein!« Der Chef wies mit dem Kinn auf ein ebenerdiges Haus, das von einem windschiefen Zaun umgeben war. Die Oberin hatte ihnen den Weg beschrieben, der Chef hatte nur geistesabwesend zugehört, aber jetzt steuerte er das ebenerdige Haus so entschlossen an wie ein Navi. Der Orientierungssinn von Artur Pestallozzi war legendär, Leo folgte ihm ohne zu zögern.
    Sie betraten das Haus durch ein hölzernes Tor, von dem gerade der letzte Rest von kornblumenblauem Lack absplitterte, und standen in einem breiten gepflasterten Gang, der zum anderen Ende hin offen war, es war hier drinnen kein Grad wärmer als draußen. Das Haus umschloss offenbar einen Innenhof, eine Schaukel hing schlaff von einem kahlen Baum. Von links waren Kinderstimmen zu hören und eine junge Frauenstimme, die schimpfte, aber nur ein bisschen, das konnte man sogar in der fremden Sprache verstehen. Pestallozzi klopfte an die Tür und öffnete sie, sofort verstummten die Stimmen. Kinder saßen auf einem Teppich, in einem schwarzen Eisenofen brannte ein Feuer. Die Haare der meisten Kinder waren struppig, als ob sie schon lang keinen Kamm mehr gesehen hätten. Sie hatten fast alle knallrote Backen, die wie von Kälte verbrannt wirkten, bei den meisten hatte sich der Rotz aus der Nase zu Schorf über den Lippen verkrustet. Ihre Pullover und Hosen waren entweder zu klein oder zu groß, löchrig waren sie allesamt. Die junge Frau, die zwischen ihnen saß und ein Buch in der Hand hielt, sah einen Moment lang so erschrocken drein, dass Leo einen Schritt zurück machte. Du lieber Himmel, sie waren doch keine Räuber! Oder noch Schlimmeres! Die junge Frau hatte sich jedenfalls blitzschnell erhoben, jetzt stand sie vor ihnen und hielt das

Weitere Kostenlose Bücher