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Kalter Weihrauch - Roman

Kalter Weihrauch - Roman

Titel: Kalter Weihrauch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gmeiner-Verlag
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Gegenübers war wettergegerbt wie das einer Bäuerin. Schwester Annunziata war 54 Jahre alt, das wusste er bereits, und dass sie aus Lienz in Osttirol stammte und mit 30 Jahren in den Orden eingetreten war. Eine Spätberufene, hatte die Oberin gesagt. Das sind oft die Besten. Die sich umgesehen haben draußen in der Welt und ganz bewusst das Leben hinter sich zurücklassen, das sie sich aufgebaut haben. In der Stimme der Oberin hatte unüberhörbar Respekt mitgeschwungen. Und noch etwas … Besorgnis?
    »Die Kinder da draußen«, sagte Pestallozzi. »Führen Sie auch einen Kindergarten?«
    Sie schien eine Zehntelsekunde lang überrascht. Ganz eindeutig hatte sich Schwester Annunziata schon zurechtgelegt, was sie ihnen über Agota Lakatos zu berichten gedachte. Wie viel sie überhaupt preisgeben wollte. Andere Fragen waren nicht erwünscht, das war ihr deutlich anzumerken.
    »Ganz recht. Seit zwei Jahren.«
    »Es war bestimmt nicht leicht, hier diese Art von Institution aufzubauen. Sie kümmern sich ja in erster Linie um junge Frauen, hat mir Ihre Oberin gesagt. Bieten Sie auch ganz konkret Schutz an in Ihrem Haus?«
    »Nur im äußersten Notfall. Ich gehe hinaus, an bestimmte Orte, und spreche die Frauen an. Versuche, mit ihnen in Kontakt zu kommen. Ich kann nur Informationen und weiterführende Hilfe anbieten. Aber wir sind kein Frauenhaus.«
    »Das klingt trotzdem sehr eindrucksvoll. Und Ihre Arbeit wird bestimmt von vielen nicht gern gesehen. Hat man Sie schon einmal bedroht?«
    Sie sah ungeduldig drein. So viel Aufheben um ihre Person, wo doch so viel Arbeit zu tun war. Fünf Minuten noch, dann würde Schwester Annunziata ärgerlich werden, allerspätestens.
    »Das ist schon vorgekommen. Aber das gehört dazu. Man muss es einfach ignorieren.«
    »Wie sind Sie eigentlich dazu gekommen, sich in diesem Milieu zu bewegen? Ist das nicht eher ungewöhnlich für eine Ordensschwester?«
    »Ganz und gar nicht. Unser Orden kümmert sich seit jeher um Menschen, die am Rand der Gesellschaft leben.«
    »Aber Sie ganz persönlich? Was hat Sie dazu bewogen, sich für diesen Weg zu entscheiden? Ich meine, Sie hätten ja auch Marmelade einkochen können wie Ihre Mitschwestern. Was hat Sie hierher geführt?«
    »Es hat sich so ergeben.«
    »Ah ja.«
    Sie war es nicht gewohnt, über sich selbst zu sprechen, das war ihr deutlich anzumerken. Schweigen senkte sich über das kalte Zimmer. Schwester Annunziata sah zum Fenster hinaus, aber dort war nur die getünchte Kirchenmauer. Dann richtete sie den Blick auf Pestallozzi. Der sah sie an, neugierig, freundlich, forschend.
    »Meine Mutter war Prostituierte«, sagte Schwester Annunziata. Es war plötzlich so still im Raum, dass Leo meinte, sein Herz schlagen zu hören. Die Frau sah wieder zum Fenster hinaus, sie schien durch die getünchte Wand hindurchzusehen.
    »Ich habe erst nach der Schule durch einen Zufall erfahren, wer meine Mutter war, sie ist damals schon tot gewesen. Sie hat mich zur Adoption freigegeben, gleich nach der Geburt. Jahre später bin ich in unseren Orden eingetreten. Das hat nichts mit meiner Herkunft oder meiner Geschichte zu tun gehabt. Vor bald zehn Jahren bin ich dann hierhergekommen, um einer ungarischen Schwester zur Seite zu stehen, und bin dageblieben. Vielleicht wollte ich ja etwas zurückgeben. Mich bedanken, wenn Sie so wollen. Dafür, dass ich gerettet worden bin. Von unserem Herrn. Und von meiner Mutter. Wer weiß, wo ich gelandet wäre, wenn sie mich nicht weggegeben hätte.«
    Das war eine lange Rede für Schwester Annunziata gewesen, man merkte es ihr deutlich an. Das Eis war noch nicht getaut, aber es hatte einen winzig kleinen Sprung bekommen, wie wenn die Sonne im Frühjahr nur lang genug auf eine bestimmte Stelle am Ufer scheint. Leo senkte ganz vorsichtig auch seine zweite Pobacke auf die Bank herab. Pestallozzi kramte seinen Spiralblock hervor und blätterte darin. Schwester Annunziata hatte die Hände gefaltet.
    »Und Agota?«
    »Agota Lakatos habe ich nicht besonders gut gekannt, da muss ich Sie leider enttäuschen.«
    »Trotzdem haben Sie sich ganz offenkundig sehr für sie eingesetzt und haben sogar erreicht, dass sie nach Österreich ins Ordenshaus kommen durfte. Weshalb?«
    Die Oberin, also die Chefin von Schwester Annunziata sozusagen, hatte ihm größtmögliche Unterstützung bei der Aufklärung des Todes von Agota Lakatos versprochen. Und eine entsprechende Instruktion an Schwester Annunziata zugesagt. Aber würde sich die Frau ihm

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