Kalter Weihrauch - Roman
völlig überrascht gewesen sein, kein Mensch wagt es hier, die Hand gegen ihn zu erheben. Zwei Tage später ist Agota dann vor unserem Haus gesessen. Sie hat sich gerade noch herschleppen können, so haben sie sie zugerichtet. Wir haben ihre Wunden gereinigt und verbunden und ihr eine Schlafstelle zur Verfügung gestellt. Sie hat zwei Wochen gebraucht, bis sie wieder halbwegs auf den Beinen war.«
Im Zimmer war es fast so kalt wie damals im Schnee, als er zum ersten Mal in das Gesicht geblickt hatte, das ihn an alte Ikonen erinnert hatte oder an Frieda Kahlo. Er mochte sich nicht vorstellen, was Agota Lakatos alles widerfahren war, was ihrem Körper angetan worden war in ihrem kurzen Leben. Und trotzdem hatte sie noch Kraft und Wut besessen, war sie nicht völlig abgestumpft gewesen wie so viele andere, die ein ähnliches Schicksal hatten. Bald nach dem Zusammenbruch des Ostblocks war er als junger Spund einmal gemeinsam mit einem älteren Kollegen über Budweis nach Wien gefahren, nach einem Seminar in Prag. Und am Straßenrand knapp vor der Grenze waren die Mädchen gestanden, Kinder noch, mit unendlich müden Gesichtern, aufgetakelt und angemalt, und hatten versucht, mit obszönen Gesten die vorbeifahrenden Männer zum Anhalten zu bewegen. Am Wochenende kannst hier nur im Schritttempo fahren, hatte der Kollege aus Retz ihm erzählt, wegen dem er diesen Umweg gemacht hatte. Das ist hier das ganz große Geschäft, der Babystrich . Um 1000 Schilling kriegst sogar einen Säugling. Und was macht man dann mit einem Säugling? Das hatte er eigentlich fassungslos und spontan fragen wollen, aber sich im letzten Moment auf die Zunge gebissen. Denn das hatte er einfach nicht wissen, sich nicht vorstellen wollen. Den Babystrich hinter der tschechischen Grenze gab es schon lang nicht mehr, jedenfalls nicht auf der Straße. Säuglinge bestellte man jetzt übers Internet.
Draußen vor dem Fenster hatte es zu schneien begonnen, der Winter schien sie zu verfolgen quer übers Land. Leo schaute schon ganz verfroren aus, nur die Schwester schien von der Kälte nichts zu bemerken. Aber war es nicht auch in den meisten Kirchen immer kalt?
»Haben Sie von Agotas körperlicher Beschaffenheit gewusst«, fragte Pestallozzi. Er hörte selbst, wie gestelzt das klang, aber welche anderen Worte hätte er einer Klosterschwester gegenüber wählen sollen?
»Wir haben sie auch schon früher verarztet. Noch bevor sie für Oslip gearbeitet hat. Mit Agota ist niemand sanft umgegangen.«
»Und Sie haben es nicht für nötig erachtet, Ihre Oberin über diese … diese Besonderheit zu informieren?«
Sie wirkte zum ersten Mal aus der Fassung gebracht. »Wir … die Situation war einfach nicht …« Sie holte tief Luft. »Ich habe in diesem Haus tagtäglich mit Gewalt zu tun. Gegen Frauen, gegen Kinder. Einer der Clanchefs hier hat seine Zehen tätowiert. Und wissen Sie, was da steht, Herr Pestallozzi? Auf seinen Zehen? Wasch mir die Füße, Frau! In einer solchen Welt leben die Menschen hier, jeden Tag, von klein auf. Man gewöhnt sich daran, man gewöhnt sich an alles. Fast an alles. Aber rund um Agota hat sich damals eine solche Atmosphäre von Verzweiflung aufgebaut, dass ich einfach eine Entscheidung treffen musste. Ich wollte eine winzig kleine Chance für sie. Für diesen Menschen. Unsere ehrwürdige Mutter hat in ihrer Güte mein Anliegen verstanden und einen Ausweg angeboten. Wir alle haben gedacht, dass es ihr helfen würde. Ich habe Agota seither jeden Tag in meine Gebete eingeschlossen. Und es war eine der schlimmsten Stunden für mich, als ich von ihrem Tod in Kenntnis gesetzt wurde.«
Sie hatte keinen Vorwurf ausgesprochen, aber ihre Worte fühlten sich wie ein Messer im Fleisch für ihn an. Im Elend einer Roma-Siedlung mochte die Gewalt gegen Agota begonnen haben, im düsteren Imperium des Ferdinand Oslip war die Schraube angezogen worden, aber zu Tode gekommen war sie bei ihm zu Hause, mitten im Lichterglanz der Adventzeit, mitten im Überfluss. Am liebsten wäre er aufgesprungen und zurückgefahren. Diesen Fall musste er klären, und wenn es ihm den allerletzten Schlaf rauben würde.
»Glauben Sie, dass Oslip auf ihre Spur gekommen ist? Und dafür gesorgt hat, dass …«
Schwester Annunziata schüttelte den Kopf, beinahe ärgerlich über seine Frage. »Was hätte er denn zu befürchten gehabt? Von einer Zigeunerin, noch dazu mit dieser Vergangenheit? Das können Sie sich aus dem Kopf schlagen. Der Herr Oslip hat eine
Weitere Kostenlose Bücher