Kalter Zwilling
Wald wurde immer dichter und die Sonne verbarg sich hinter den Baumkronen, als der Weg abrupt endete. Ein weiteres Schild wies nach rechts. Emily bog in einen Kiesweg ein. Nach fünfzig Metern erreichte sie ein riesiges schwarzes Eisentor.
Sie hielt an und drückte auf den Empfangsknopf, der aus einer metallenen Säule herausragte. Ohne dass sie etwas sagen musste, öffnete sich das schwere Tor. Wie von Geisterhand schwebten die Flügel auseinander. Emily gab Gas. Der Kies knirschte unter den Rädern, während sie den riesigen Park bewunderte, der sich hinter dem Tor auftat. Große alte Bäume, umgeben von bunten Blumeninseln und formschön geschnittenen Büschen, wechselten sich ab. Zwischen uralten Eichen entdeckte Emily das Haus mit den traurigen Fenstern. Es sah genauso aus wie auf dem Foto. Kleine Türmchen ragten aus dem Dach der prächtigen Villa. Dieses äußerst gepflegte Anwesen wirkte nicht wie ein Krankenhaus, es hätte vielmehr in das Immobilienportfolio eines Multimillionärs gepasst. Emily parkte auf dem Rondell direkt vor dem Eingang. Ihre Autotür schlug mit einem lauten Knall zu.
Sie blickte sich um und erschrak. Die Fenster dieses Hauses wirkten nicht nur wie Augen - es waren Augen. Aus mindestens drei Fenstern wurde sie beobachtet. Deutlich konnte sie die schemenhaften Gestalten, die an den Scheiben klebten, erkennen. Eine Gänsehaut lief ihr über den ganzen Körper. Das war unheimlich. Sie hätte doch darauf bestehen sollen, dass Anna sie begleitete.
Anna war ihre beste Freundin. Sie half ihr immer bei den Recherchen, auch wenn sie eine vielbeschäftigte Bankerin war. Mit Anna an ihrer Seite würde sie sich jetzt wesentlich wohler fühlen. Emily holte tief Luft und zwang sich, auf die Eingangstür zu schauen. Sie wollte nicht, dass die Geisteskranken ihre Furcht bemerkten. Erleichtert nahm sie die Türklinke in die Hand und trat ein. Hier wirkte das Haus schon eher wie eine Klinik.
Weiße, schmucklose Wände und ein grauer Linoleumfußboden betonten die farblose, neutrale Umgebung. Emily entdeckte die hinter einer Säule versteckte Anmeldung. Eine ältere Schwester mit brünetten Locken beugte sich gerade über ein aufgeklapptes Buch und fuhr angestrengt mit den Fingern über die Zeilen. Irgendwie kam sie Emily bekannt vor. Sie trat dicht an den Schalter heran und räusperte sich. Die Schwester sah auf. Ihr erstaunter Blick blieb an Emily haften. »Emily, was machen Sie denn hier?«
Emily brauchte einige Sekunden, bevor sie die Schwester erkannte. »Das gibt es ja nicht, Frau Winterfeld. Ich wusste gar nicht, dass Sie hier arbeiten.« Emily hätte schwören können, dass Annas Mutter in einer Kölner Klinik tätig war.
»Ich habe erst vor ein paar Tagen hier angefangen. Anna hat sicher vergessen, es zu erwähnen.« Frau Winterfeld lächelte, immer noch überrascht. Ihr Finger blieb auf einer Zeile des Kalenders hängen. »Ich habe Ihren Termin gerade im Kalender entdeckt. Kommen Sie, ich bringe Sie zu Professor Morgenstern.«
...
Professor Morgenstern war viel jünger, als Emily erwartet hatte. Blaue Augen in einem markanten Gesicht, umrandet von einem blonden Lockenschopf, musterten sie interessiert. Die lange, schräge Narbe über seiner rechten Wange fiel Emily sofort ins Auge. Er war nicht besonders groß, dafür jedoch durchtrainiert. Wie ein Professor kam er ihr ganz und gar nicht vor. Er reichte ihr die Hand und lächelte. »Herzlich willkommen in unserer Klinik, Frau Richter. Es freut mich wirklich sehr, Sie kennenzulernen.« Sein Händedruck war fest. Er bot Emily den Stuhl vor seinem Schreibtisch an und sie nahm Platz.
»Danke, dass ich so schnell einen Termin bei Ihnen bekommen habe.«
»Kein Problem. Ich habe Ihre Reportagen über den Puzzlemörder und auch den Sichelmörder gelesen. Das war wirklich äußerst interessant. Und ich bin natürlich gerne bereit, Sie bei Ihrem neuen Vorhaben zu unterstützen.« Er zwinkerte ihr freundlich zu.
Emily lächelte schüchtern und zupfte sich am rechten Ohrläppchen. Professor Morgenstern verfolgte jede ihrer Gesten mit wachen Augen.
»Ich möchte meine neue Reportage über das Böse im Menschen schreiben. Insbesondere interessieren mich die sogenannten Psychopathen. Ich denke, dass Menschen mit derartigen Persönlichkeitsstörungen zu den grausamsten Verbrechen imstande sind.«
»Da liegen Sie leider vollkommen richtig mit Ihrer Annahme.« Professor Morgenstern runzelte die Stirn und fuhr mit leiser Stimme fort.
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