Kalter Zwilling
zugestoßen?«
Jakob wedelte hilflos mit den Armen in der Luft. Blubbernde, kehlige Geräusche kamen aus seinem Mund. Bastian sah die Blutspuren und begriff, dass dem Jungen die Zunge fehlte.
Abgeschnittene Finger, Tierkadaver, eine verbrannte Frauenleiche und zur Krönung ein aufgeschlitzter Schmied. Sollte das alles dem buckligen Gilig zuzuschreiben sein?
»Wer hat das getan?«
Jakob fuchtelte wild mit den Händen, doch Bastian konnte seine Gesten nicht deuten.
»Könnt Ihr schreiben?« Jakob schüttelte den Kopf.
Dachte ich mir, stöhnte Bastian innerlich auf. Als Zeuge war Jakob vollkommen wertlos. Dann hatte er eine Idee. Er zerrte den Sohn des Schmiedes in den Juddeturm und bat ihn, die Treppen hinaufzusteigen. Wenn Gilig ihm die Zunge herausgetrennt hatte, dann könnte er das mit einem Kopfnicken bestätigen. Hastig öffnete Bastian die Tür zu Giligs Gefängnis und schob Jakob hinein.
»Hat dieser Mann Euch die Zunge herausgeschnitten?«
Jakob schüttelte den Kopf, versuchte aber mit den Händen etwas zu sagen. Bastian fühlte sich hilflos. Er versuchte es mit einer weiteren Frage. »Hat er Eurem Vater die Münzen abgekauft?« Abermals schüttelte Jakob den Kopf. Gilig schluchzte: »Jakob, Ihr wisst, dass ich unschuldig bin. Ich habe Euren Vater nicht auf dem Gewissen!« Mit flehenden Augen versuchte Gilig, den jungen Jakob zu beschwören, doch dieser schüttelte den Kopf.
Bastian fasste nach. »Hat er Euren Vater getötet?«
Die Antwort war ein Achselzucken.
»Ihr könnt also nicht ausschließen, dass Gilig es war?«
Jakob warf Gilig einen verächtlichen Blick zu und nickte. Gilig stieß einen verzweifelten Schrei aus. »Ich habe Eurem Vater oft geholfen! Wie könnt Ihr mir das antun?«
Jakob versuchte, sich auf den Buckligen zu stürzen. Doch Bastian hielt ihn im letzten Moment zurück. Offensichtlich hatte der Bucklige sich schuldig gemacht, aber ohne Beweise oder Zeugen, durfte Bastian ihn nicht verurteilen.
»Hat Euer Vater Geschäfte mit dem Bruderältesten gemacht?«
Jakob sah Bastian verwirrt an und nickte.
»Hat Euer Vater Gulden gefälscht?«
Jakobs Augen weiteten sich für einen Moment, dann schüttelte er den Kopf.
Er lügt, dachte Bastian. Jakob hatte ihm bei seiner Antwort nicht in die Augen gesehen. Trotzdem fuhr er mit seinen Fragen fort. »Hat der Bruderälteste, Reinhard Nolden, oder einer seiner Männer Euch dies angetan?«
Jakob schüttelte den Kopf. Diesmal schien er die Wahrheit zu sagen. Bastian befragte den jungen Mann weiter, aber es war zwecklos. Die einzig brauchbare Information war, dass sein Peiniger ein hagerer Mann in einer dunklen Kutte gewesen war. Zumindest hatte Jakob bei diesen Fragen genickt. Ebenso bei der Frage, ob er ihn von Angesicht zu Angesicht erkennen würde.
Ich muss also diesen hageren Mann schnappen, dachte Bastian und sah die dunkle Gestalt mit dem Giftpfeil im Kloster Brauweiler vor sich, die im letzten Moment auf einem Pferd entkommen war.
...
Es war dunkel in Zons. Wernhart schlich durch die engen Gassen und fror am ganzen Leib. Obwohl der Winter noch nicht eingekehrt war, sanken die Temperaturen in der Nacht schon so stark, dass Wernhart seinen heißen Atem als weiße Dampfwolke vor seinem Gesicht sehen konnte.
Seit Tagen verfolgte er den Bruderältesten der St.-Sebastianus-Schützenbruderschaft. Bastian hatte ihn gebeten, ihn auf keinen Fall länger als ein paar Stunden aus den Augen zu lassen. Also schlich Wernhart auch nachts dreimal an der Hütte von Reinhard Nolden vorbei.
Heute war es seine erste Runde. Die Nacht war gerade erst angebrochen, denn der Nachtwächter hatte noch nicht zur zehnten Stunde gerufen. Unachtsam stapfte Wernhart in eine Pfütze und fluchte leise vor sich hin. Das kalte Wasser drang sofort in seine Ledersohlen ein und Wernhart kam sich vor wie ein lebender Eisklumpen. Vor ihm erhob sich der Krötschenturm, der in der Dunkelheit wie ein stummer Riese wirkte. Oben auf der Stadtmauer spendeten die Fackeln der Stadtwache karges Licht.
Der Wind blies kalt durch die Gassen und ließ dunkle Schatten auf den alten Gemäuern tanzen. Wernhart zog die Schultern hoch und rieb sich kräftig die Hände, um ein wenig Wärme zu erzeugen. Im Krötschenturm war alles ruhig. Seit Gilig im Juddeturm festsaß, hatte sich kein Zonser Bürger mehr über herumschleichende Gestalten beschwert. Auch Tierkadaver waren seitdem nicht mehr aufgetaucht. Wernhart hielt Gilig für schuldig. Er erinnerte sich genau an die
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