Kaltes Gift
halten,
doch die körperliche Anstrengung vertrieb ihre Sorgen um das Haus, in
dem ihre Opfer bei ihrer ewigen Teegesellschaft saßen.
»Ich kenne alle Spazierwege hier in der Gegend«, erklärte
Eunice über die Schulter hinweg. »Einige sind schon seit Jahrhunderten
unverändert, vielleicht sogar seit Jahrtausenden. Man sagt, etliche
davon seien bereits prähistorische Verbindungswege gewesen. Man kann
sich richtig vorstellen, wie römische Soldaten über diese Felder
getrampelt sind. Oder vielleicht Druiden.«
Daisy war mehr damit beschäftigt, sich Eunice vorzustellen, im
Todeskampf verkrümmt, bläulich anlaufend, während die Blausäure sich
durch ihren Körper fraß, also sagte sie im Weitergehen bloß: »Ja,
wirklich.« Ihre Schuhe waren nicht gerade ideal für dieses Unterfangen.
Sie stiegen einen sanften Hang hinauf, und oben blieb Eunice
stehen und blickte entzückt nach vorn. Daisy hatte es schwer,
hinterherzukommen. Doch als auch sie schwer atmend oben angekommen war,
blieb ihr die Luft vollends weg.
Vor ihnen lag eine Kirche. Eine alte Kirche aus grauem
Sandstein, mit einem vierschrötigen Turm in der Mitte und einem noch
älteren, hölzernen Bauwerk am hinteren Ende, weit weg von der großen
Doppeltür, durch die man das Innere betrat. Die Kirche stand inmitten
eines Friedhofes, durch eine Feldsteinmauer gegen die umliegenden
Felder abgegrenzt. Ein Weg führte zu ein paar weit entfernten Gebäuden.
»Die St.-Alkmunds-Kirche«, erklärte Eunice. »Kein Pfarrer
mehr, schon seit den siebziger Jahren nicht mehr. Alle vier Wochen
kommt mal ein Priester angeradelt, nach einem Turnusplan alter
einheimischer Kirchen ohne eigenen Pfarrer, aber der Gottesdienst ist
schwach besucht, und es werden immer weniger, weil die Leute hier
wegsterben. Aber eine wunderbare Architektur. Hauptsächlich
normannischer Einfluss. Wäre 'ne Schande, sie zu verlieren. Schauen Sie
mal, dieses hölzerne Ding da am Ende. Ich hab mal irgendwo gelesen,
dass das von einer früheren Kirche an dieser Stelle stammt.
Angelsächsisch. Ohne Nägel gebaut. Wird anscheinend mit Holzpflöcken
zusammengehalten. Gehen wir doch mal näher ran.«
»Lieber nicht«, wehrte Daisy ab, doch Eunice stapfte los.
Wieder betrachtete Daisy die Kirche. Irgendwas an der Art, wie
sie dort inmitten der Felder hockte, einsam, aber unbußfertig, war ihr
unbehaglich. Es war, als habe sie auf Daisy gewartet. All die Jahre
darauf gewartet, dass sie zurückkäme, voller düsterer Gedanken, die in
ihrem Herzen moderten.
Eunice hatte jetzt die Feldsteinmauer erreicht und ging auf
das Friedhofstor zu. Daisy folgte ihr; sie wusste, dass irgendetwas
nicht stimmte.
Der Friedhof war längst von Unkraut und Wildblumen überwuchert
worden. Die Grabsteine waren von der Salzluft zerfressen und so dicht
von Moos bewachsen, dass sie runden Geröllbrocken ähnelten. Welche
Inschriften dort auch immer eingemeißelt gewesen sein mochten, jetzt
waren sie nur noch Erosionen im Granit, Gedenkzeilen, die verblichen
waren, bis nichts übrig geblieben war als die schwache Erinnerung, dass
es hier einmal etwas gegeben hatte, das nun für immer verloren war.
Eunice fuhr mit der Hand über einen Grabstein, der halb zur
Seite gekippt war. »Denken Sie doch mal an die Geschichte dieses
Ortes«, sagte sie nachdenklich, »wie hier alles immer gleich geblieben
ist, während alles ringsum – die Landschaft, das Land, die
Welt – sich verändert hat.«
Doch Daisy hörte nicht zu. An der Ecke der Kirche hatte sie
einen Grabstein ausgemacht, der flach auf den Boden gelegt war. Sie
ging darauf zu, mit widerstrebenden Füßen, aber unfähig, stehen zu
bleiben. Vielleicht durch den Schutz der massigen Kirche waren die in
den Stein gemeißelten Buchstaben noch fast lesbar.
Madeline Poel stand da, doch das war
unmöglich.
Denn bevor sie Daisy Wilson geworden, bevor sie Violet
Chambers, bevor sie sonst wer gewesen war, war sie – das
wusste sie – Madeline Poel gewesen.
16
W enn man eine tote alte
Frau findet, dachte Mark Lapslie verbittert, dann geben sie einem einen
Schreibtisch und einen Detective Sergeant; findet man dreizehn, kriegt
man einen eigenen Ermittlungsraum und so viel Personal, dass man sich
kaum die Namen merken kann. Nicht einmal der DCS hatte es geschafft,
das Ausufern dieser Ermittlungen zu verhindern, obwohl es hieß, er habe
es mehrfach versucht. Anscheinend hatte er zunächst eingewandt, solange
bei diesen Todesfällen nicht vorsätzlicher Mord nachgewiesen sei,
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