Kaltes Gift
regelrecht zur zweiten Heimat geworden. Es
fühlt sich an, als ob ich wirklich hierhergehöre.«
Daisy trank ihren Tee und betrachtete Eunice. Sie verabscheute
diese Frau inzwischen noch mehr als bei ihrer ersten Begegnung. Die
sechs Tage, die die beiden gemeinsam verbracht hatten, waren nichts als
ein endloser Monolog von Eunice gewesen – über ihr vergangenes
Leben, ihre Freunde, ihre Liebhaber, ihre diversen ungewollten
Schwangerschaften, die entweder auf natürliche oder auf unnatürliche
Weise beendet worden waren, und über die Beziehungen zu ihrer Familie.
Daisy hatte von sich selbst kaum etwas preisgegeben, doch das war
Eunice gar nicht aufgefallen. Selbst wenn sie Daisy mal eine Frage
stellte, wo sie gelebt und was sie mit ihrem Leben angefangen
hätte – am Ende redete sie doch regelmäßig wieder über sich
selbst. Der Vorteil dabei war, dass Daisy rasch einen guten Überblick
über Eunices Leben gewann – die Namen, die Daten, die
bedeutungsvollen Momente. Der Nachteil war, dass von all den Frauen,
deren Identität Daisy übernommen hatte, Eunices Leben am weitesten von
ihren eigenen Erfahrungen entfernt war. Eunice zu werden, das würde
gewaltige Anstrengungen kosten.
Ach, aber wenn es passiert war … wenn Eunice tot war
und ihren Platz in Daisys Teerunde eingenommen hatte … das
würde ein Genuss werden! Daisy ließ die Gedanken schweifen, malte sich
Eunice aus, nicht wie sie jetzt aussah, dick und mit Hängebrust,
sondern stolz zwischen den anderen am Tische sitzend, auf den kargen
Rest reduziert: die Haut von der Natur zurückgefordert, um in aller
Nacktheit zu enthüllen, was darunterlag. Welch eine Augenweide!
Eine winzige Motte der Besorgnis begann, am Gewebe ihrer
Selbstsicherheit zu nagen. Violet Chambers' Leiche war in ihrem
unauffälligen Grab im Wald entdeckt worden. Daisy war mit Violet auf
dem Weg zu ihrer Teegesellschaft gewesen, als ihr Reifen platzte und
sie gezwungen war, die Leiche zurückzulassen. Besonders, nachdem sie
wieder zum Leben erwacht war und Daisy ihr den Schädel eingeschlagen
hatte, um sie an der Flucht zu hindern, wodurch sie ruiniert und damit
für die Teerunde unbrauchbar gewesen war. Was sie quälte, war die
Frage: Hatte die Polizei irgendwelche Möglichkeiten, ihren Wagen
aufzuspüren und herauszufinden, wohin sie verschwunden war? Sie sah
selten fern, und schon gar keine Kriminalfilme, doch Daisy war sich
vage bewusst, dass der Polizei alle möglichen wissenschaftlichen
Techniken zur Verfügung standen, die es früher nicht gegeben hatte.
Dinge, die mehr in die Phantasie als in die Realität zu gehören
schienen. Konnten sie ihr kleines Versteck entdecken, ihr Paradies, ihr
Refugium? Der Gedanke verursachte ihr Unbehagen. Sie schauderte und
kratzte sich.
»Geht's Ihnen nicht gut?«, fragte Eunice. »Wenn Sie sich nicht
wohlfühlen, dann gehen Sie lieber nach Hause. Ich möchte mir nicht
sonst was von Ihnen einfangen.«
Unverblümt bis zur Grobheit, das war Eunice. »Mir war
plötzlich, als wandle jemand über meine Gräber«, murmelte Daisy vor
sich hin.
Den ganzen Nachmittag über nagte dieser Gedanke an ihr.
Polizisten, die alles durchwühlten, was ihr teuer war: das einzig
Konstante während all ihrer wechselnden Identitäten und ständig neuen
Wohnorte. Ihr Innerstes. Ihr Zentrum.
Daisy wusste gar nicht mehr, von wem das Haus ursprünglich
stammte. Die Identität der Eigentümerin lag im Nebel ihrer
Vergangenheit begraben, und die Besitzerin saß, wie Daisy sich
verschwommen erinnerte, immer noch am Kopf des Esstisches. Alles, was
sie noch wusste, war, dass die Frau es von irgendwoher geerbt hatte und
alle Hypotheken getilgt waren. Solange sie die Grundsteuer dafür
zahlte – und sie fuhr etwa einmal im Monat vorbei, um die
Briefe des Gemeinderats abzuholen, der ihr mitteilte, wie viel zu
zahlen war –, so lange, hatte sie angenommen, sei alles
sicher. Ungestört. Sie hatte auch vorsorglich etliche Male die Gas- und
Stromlieferanten gewechselt, hatte darauf geachtet, nach der letzten
Abrechnung keinen neuen Vertrag einzugehen. Auf diese Weise gab es
keinen Grund, dass eine technische Störung oder eine undichte
Gasleitung für eine Überziehung ihres Kontos sorgen könnte, was
schließlich den Gerichtsvollzieher auf den Plan rufen könnte. Das wäre
eine Katastrophe gewesen. Tatsächlich hatten bei ihren letzten paar
Besuchen – der letzte, mit der Leiche der echten Daisy Wilson
im Gepäck, war sechs Monate her – auch nur wenige Briefe
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