Kaltes Gift
schwieg einen Moment sehr eindrucksvoll. »Es ist ein Notfall, ganz recht. Nichts vor morgen? Überhaupt
nichts?« Sie seufzte. »Na gut. Dann bringen wir ihn eben dann. Der Name
ist Jasper. Verzeihung – ja. Ich verstehe. Die Besitzerin
heißt Eunice Coleman. C-O-L-E-M-A-N. Ja, danke.« Sie wandte sich mit
bedauerndem Gesicht Eunice zu, während sie den Hörer auflegte. »Sie
haben vor morgen Nachmittag keine Termine frei. Sie sagen, wir sollen
Jasper warm halten und ihm viel Flüssigkeit verabreichen.«
Eunices Augen waren schwer von Tränen. »Ich weiß nicht, was
ich ohne Jasper machen sollte. Er ist mein ständiger Begleiter. Er
bedeutet mir alles.«
»Alles unter dem Himmel hat seine Zeit«, sagte Daisy. »Wenn es
Jaspers Zeit ist, dann können wir nichts tun, als bei ihm zu bleiben
und es ihm möglichst leicht zu machen. Und wenn er nicht mehr da ist,
dann werde ich Ihre ständige Begleiterin sein.« Bis
du an der Reihe bist und stirbst, atemlos und gelähmt, dachte
Daisy, aber sie behielt den Gedanken für sich.
Jasper atmete immer langsamer. Und irgendwann im Laufe des
Vormittags, als Eunice gerade herumwuselte und Decken suchte, um ihn
zuzudecken, atmete er gar nicht mehr.
Daisy hingegen tat einen tiefen Seufzer der Erleichterung. Sie
hatte das kleine Ungeheuer gehasst. Jeder Hund hat mal Glück, wie es so
schön hieß, und das Glück dieses speziellen Hundes war nun eben vorbei.
Und jetzt hatte Daisy eine genaue Vorstellung, wie viel von den
geriebenen Aprikosenkernen sie brauchte, um Eunice umzubringen.
Außerdem sah es so aus, als würde dieser Tod ohne Schweinerei über die
Bühne gehen, der Art und Weise nach zu urteilen, wie Jasper einfach
davongeglitten war. Kein Erbrechen, kein Durchfall, nichts
aufzuwischen. Nach den Problemen, die sie das letzte Mal gehabt hatte,
war Daisy dafür dankbar.
Eunice schluchzte untröstlich über Jaspers Leichnam. Wie Daisy
gehofft hatte, war Eunice durch den Tod des Hundes in eine
Abwärtsspirale des Kummers geraten, durch die sie, wenn Daisy sich
nicht völlig täuschte, nur umso abhängiger von dem einzigen Menschen
werden würde, den sie noch hatte.
Daisy trug Jaspers Kadaver in einer Holzkiste, die irgendwann
einmal von einer Lieferung übrig geblieben war, nach draußen. Sie
versprach Eunice, den Leichnam zum Tierarzt zu bringen und dafür zu
sorgen, dass er ein anständiges Begräbnis bekam. Tatsächlich jedoch
hatte Daisy vor, die Kiste über die nächste Mauer zu werfen, wenn sie
ging. Sie wollte mit dem Hund jetzt, wo er tot war, ebenso wenig zu tun
haben wie vorher, als er noch am Leben gewesen war.
Eunice verbrachte den Rest des Tages in ihrem Haus hinter der
Scheune, wo sie sich hingelegt hatte. Daisy schloss das Kunst- und
Antiquitäten-Center und gesellte sich zu ihr. Während Eunice schlief,
verbrachte Daisy die Zeit damit, die Schubladen zu durchsuchen und
Fotos anzusehen. Aus allem würde sie Kapital zu schlagen wissen.
Später schaute sie nach Eunice. Die Frau schlief noch immer,
schnarchte mit einem Geräusch wie Luftblasen, die sich ihren Weg durch
Schlamm bahnen. Daisy setzte sich eine Weile auf einen Stuhl neben dem
Bett und betrachtete Eunices Gesicht: Verinnerlichte jede Falte, jede
Pore, jede Haarsträhne, jeden Leberfleck. Im Schlaf lockerten sich
Eunices Muskeln, die Schwerkraft zog das weiche Gewebe abwärts, so dass
es aussah, als glitte das Fleisch langsam von dem Schädel darunter
herab und zerliefe auf dem Kissen. Ihr Gesicht war trocken und zu stark
gepudert. Die Haut um die geschminkten Lippen war von abertausend
haarfeinen vertikalen Rissen durchzogen, wie winzige Messerschnitte.
Die Zeichen des Alters. Die Zeichen dafür, dass das Fleisch begann,
aufzugeben.
Daisy übte eine Weile, ihren Mund in dieselbe Form zu ziehen
wie Eunices; die Unterlippe vorgeschoben, die Mundwinkel nach unten
gezogen, die Lippen leicht geöffnet. Nicht dass sie sich der Täuschung
hingab, sie werde nach und nach selbst wie Eunice aussehen, wenn sie
einmal deren Identität übernommen hatte; es war mehr, dass sie sich das
Gesicht dieser Frau einprägen wollte, solange sie es noch konnte. Wenn
sie dann Eunice wurde, wenn sie Eunice war, dann wollte sie anders sein als Daisy, als Violet und all
die, die vorher kamen. Und um das zu erreichen, so hatte sie
herausgefunden, war es am besten, das Gesicht in Erinnerung zu behalten
und niemals in einen Spiegel zu blicken.
Später stand sie auf und ging in die Küche hinunter. Die
Kaffeemaschine, die so
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