Kaltes Gift
Sie
haben sie tatsächlich wieder auf die Gesellschaft losgelassen?«
»Weil wir glaubten, sie stelle keine Bedrohung mehr dar. Und
weil wir den Platz brauchten.« Geherty sah auf einmal müde aus. »Das
war vor meiner Zeit.«
»Das ist keine Entschuldigung.«
»Das ist keine Entschuldigung – das ist eine
Erklärung. Ihr Tod war vorgetäuscht – wir haben sogar einen
Grabstein aufgestellt, bei einer Kirche in der Gegend, wo sie
aufgewachsen war –, und ihr wurde eine neue Identität
verpasst. Wir haben ihr in Ipswich einen Job als Kellnerin verschafft
und eine hübsche Wohnung dazu. Und wir haben sie observiert –
drei Monate lang eingehend, danach mit Unterbrechungen. Und dann, als
sie wohl gedacht hat, wir beobachteten sie nicht mehr so genau, ist sie
verschwunden. Wie sich herausstellte, hat sie ein paar Monate damit
verbracht, sich eine neue Identität zu basteln, und danach ist sie
einfach aus der herausgeschlüpft, die wir für sie geschaffen hatten,
und in die eingestiegen, die sie sich selbst erschaffen hatte. Und
seitdem suchen wir sie.«
»Und ich fahnde jetzt nach ihr. Wir sollten zusammenarbeiten.«
Geherty schüttelte den Kopf. »Der einzige Grund, weshalb Sie
nach ihr fahnden, ist, dass wir den Chief Superintendent gebeten haben,
Sie zu diesem Fall hinzuzuziehen. Denn Sie haben sie gekannt. Sie haben
mit ihr gesprochen. Wenn irgendjemand Einblick hatte, wie sie tickt,
dann Sie.«
»Dann lassen Sie mich sie auch schnappen.«
»Sie haben sie lokalisiert. Das ist alles, was wir brauchen.
Wenn Sie sie jetzt verhaften, kommt sie vor Gericht, und alles kommt
heraus. Wenn wir sie erwischen, verschwindet sie. Für immer.«
»Das ist keine Gerechtigkeit.«
»Nein, aber es ist gerecht.«
Lapslie starrte Geherty an. »Das kann ich nicht zulassen«,
sagte er.
Geherty nickte. »Darum bitte ich Sie auch nicht«, meinte er.
»Ich erteile Ihnen den Befehl. Oder vielmehr, Detective Chief Inspector
Rouse nimmt soeben einen Anruf meines Ministers entgegen, der ihm
befiehlt, diesem Fall ein Ende zu setzen. Es ist vorbei. Wir übernehmen
jetzt.«
»Nur über meine Leiche«, fauchte Lapslie.
»Nein – über die Leiche Ihrer Karriere«, erwiderte
Geherty und lächelte.
17
F ühlen Sie sich besser?«, tönte Eunices
Stimme aus der Küche.
Daisy saß in Eunices kargem Wohnzimmer, umklammerte eine Tasse
Tee, und in ihrem Magen rumorte es. Alles, was sie im Geiste sah, war
der Friedhof.
Der Friedhof und der Grabstein.
Der Grabstein mit dem Namen darauf: Madeline Poel.
»Ich … weiß nicht«, erwiderte Daisy.
Es hörte sich für sie an, als käme ihre Stimme aus weiter
Ferne. Oder vielleicht aus ferner Vergangenheit. Irgendetwas stimmte
nicht mit ihren Ohren: Alles klang so dumpf, so fern, so unwichtig.
Ihre Hände zitterten.
»Vielleicht sollte ich lieber den Arzt holen?«
»Nein.« Sie schluckte, versuchte, das Gefühl in ihren Ohren zu
mildern, aber es wollte sich nichts ändern. »Nein, es wird schon
wieder. Ich glaube, es war bloß die Sonne.«
Daisy wollte nicht an Madeline Poel denken, doch jetzt, wo sie
den Namen auf dem Grabstein gesehen hatte, merkte sie, dass sie gar
nicht anders konnte. Sie fühlte sich benommen und atemlos,
wahrscheinlich so, wie Eunices Hund Jasper sich jetzt fühlte, mit
seinem vergifteten Futter. Ungebeten und unwillkommen tauchten jetzt
Gesichter vor ihrem geistigen Auge auf. Gesichter und Namen.
So viele Namen.
Vor Daisy Wilson hatte es Violet Chambers gegeben, und vor
Violet Chambers hatte es Annie Moberley gegeben, und vor Annie Moberley
hatte es Jane Winterbottom gegeben, und vor Jane Winterbottom hatte es
Deirdre Fincham gegeben, und vor Deirdre Fincham hatte es Elise
Wildersten gegeben, und vor Elise Wildersten hatte es Rhona McIntyre
gegeben, und vor Rhona McIntyre hatte es eine Frau gegeben, deren Name
jetzt in der Vergangenheit verloren war, und vor ihr eine andere, und
davor noch eine andere – sie alle jetzt nur noch Schatten in
der Dunkelheit, aber vor ihnen allen, ganz zu Beginn, da hatte es
Madeline Poel gegeben.
Daisy saß in dem Sessel in Eunices Wohnzimmer und wiegte sich
unablässig vor und zurück. Tee schwappte aus der Tasse auf die
Untertasse und von der Untertasse auf den Fußboden, doch sie merkte es
nicht. Die Vergangenheit, lange verdrängt, hatte sie im Griff.
»Daisy?« Eunice stand neben ihr. »Daisy, meine Liebe, was ist
denn?« Sie nahm Daisy Tasse und Untertasse aus den Händen und stellte
sie auf einen Tisch in der
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