Kaltes Gift
Nähe.
»Ich habe früher mal hier gelebt«, sagte Daisy leise. »Das
hatte ich ganz vergessen, aber ich habe als Kind hier gelebt. Mein
Vater hatte ein Haus in der Nähe der Naze, und ich bin in der Stadt zur
Schule gegangen. Als ich jetzt wieder herkam, da fand ich es irgendwie
merkwürdig. Ich habe etliche Gebäude wiedererkannt, die Straßen und den
Pier und die Kirche. Aber eine Menge Dinge hatten sich auch verändert.
Es ist, als könnte ich die Stadt so sehen, wie sie einmal war, und so,
wie sie jetzt ist, beides zur gleichen Zeit. Wenn ich den Kopf schräg
lege oder die Augen zusammenkneife, dann sehe ich sie sogar
gleichzeitig. Ist das nicht seltsam?«
»Daisy, ich glaube, Sie sollten sich hinlegen. Kommen Sie, ich
bringe Sie rauf ins Gästezimmer. Sie können heute Nacht hierbleiben.«
Eunice führte Daisy die Treppe hinauf und half ihr, sich auf
ein Bett mit weißen Laken und einem blassblauen Federbett
niederzulassen. Daisy war so desorientiert, dass sie nichts von dem,
was sie sah, wirklich wahrnahm. Eunice zog ihr die Schuhe aus und hob
ihre Beine aufs Bett. »Schlafen Sie ein bisschen«, sagte sie. »Wenn Sie
aufwachen, fühlen Sie sich bestimmt besser.«
»Meine Handtasche …«, murmelte Daisy.
»Ich hole sie.« Eunice ging nach unten und kam gleich darauf
mit Daisys Tasche zurück. Sie stellte sie auf einen Stuhl neben dem
Bett, zog die Vorhänge zu und ging.
Daisy tastete umher und griff sich die Tasche vom Stuhl. Sie
machte sie auf und kramte darin herum, bis sie fand, was sie gesucht
hatte. Und dann, die Gartenschere fest an die Brust gedrückt, legte sie
den Kopf wieder aufs Kissen und schlief ein.
Der grüne Rasen war immer noch mit
Schatteninseln aus rostfarbenem Blut gesprenkelt, obwohl Madelines
Brüder und Schwestern schon vor einiger Zeit fortgebracht worden waren.
Weggetragen, schlaff und hilflos, mit herabbaumelnden Händen. Hände,
die sonderbar deformiert schienen.
Sie wusste, dass sie sie nicht wiedersehen würde.
Auch wenn sie so aussahen, als ob sie schliefen, ihre Augen standen
offen und starrten nach oben in die gleißend helle Sonne. Und ihre
Augen waren trocken. Trocken und weit aufgerissen.
Die Grashalme waren von dem Blut zu Klumpen
zusammengeklebt. Das erinnerte Madeline daran, wie ihre Haare manchmal
aussahen, wenn Pflanzensaft von den Bäumen im Garten hineingeraten war:
platt gedrückt, klebrig und unmöglich auszubürsten. Sie wusste gar
nicht, wie sie den Garten wieder sauber kriegen sollten. Vielleicht
mussten sie warten, bis der Regen kam. Doch niemand schien sich um den
Garten zu sorgen. Stattdessen drängten sie sich alle um ihre Mutter und
ihre Großmutter, standen einfach herum und sagten nichts.
Madeline stand im Schatten eines Busches und fingerte
an den reifen roten Beeren herum. Den giftigen Beeren. Immer wieder
blickte sie hinüber, dorthin, wo ihre Mutter in den Armen einer
Nachbarin schluchzte. Und all die Leute standen im Garten herum, als
wüssten sie nicht recht, was sie hier eigentlich sollten. Und niemand
kümmerte sich um sie.
Ein Stück entfernt saß ihre Großmutter in einem
Rohrstuhl neben dem Tisch. Ein Polizist saß bei ihr, und ein anderer
stand hinter ihr. Der Polizist neben ihr stellte ihr Fragen, doch sie
antwortete nicht. Sie wickelte nur unentwegt den Rand ihrer Strickjacke
zu festen kleinen Spiralen um ihre Finger; ihr Gesicht war eine starre
Maske, die etwas Barbarisches verbarg.
Ihre Großmutter hatte etwas Schlimmes getan. Das
wusste Madeline, obwohl sie nicht ganz begriff, was das Schlimme war.
Ihre Großmutter tat oft schlimme Sachen. Sie schlug Madeline und ihre
Brüder und Schwestern, wenn ihre Mutter arbeitete. Madelines Mutter
gegenüber tat sie so, als ob sie das nicht täte, aber sie log. Manchmal
drehte sie ihnen die Arme auf den Rücken oder schlug sie mit einem Ast,
und dann schrie sie sie an: Wenn sie ihrer Mutter davon erzählten,
würde sie sie nur noch härter bestrafen. Und das hatte sie jetzt getan,
obwohl sie alle doch nie einer Menschenseele etwas verraten hatten.
Madeline pflückte eine Handvoll Beeren von dem Busch
und zerdrückte sie langsam in der Hand. Der Saft lief ihr zwischen den
Fingern hindurch, rot und dickflüssig, tropfte auf den Boden, wo er die
Grashalme zusammenklebte.
Madeline blickte zu dem Tisch hinüber, wo die
Teeparty angerichtet und dann vergessen worden war.
Die Tassen standen unbeachtet und verlassen auf dem
steifen weißen Tischtuch.
Sie blickte auf ihre fleckigen Hände
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