Kaltes Gift
hielt, gab es keinen Grund, sich eine gute Gelegenheit
entgehen zu lassen, wenn sie sich bot. Alle Fische landen im Netz, wie
man so sagte.
»Oh nein«, lachte Eve. »Ich wohne in Leyston. Ich lebe dort
seit meiner Kindheit.«
»Ach, wirklich?« Daisy gestattete sich einen interessierten
Gesichtsausdruck.
»Oh ja.« Eve beugte sich vertraulich vor. »Ich bin während des
Krieges evakuiert worden, wissen Sie, und während ich hier war, wurde
mein Zuhause in London bei einem Luftangriff zerbombt. Meine Familie
kam dabei ums Leben, und so bin ich bei der Familie geblieben, in die
man mich gesteckt hatte.«
»Das tut mir leid.«
»Oh, das ist jetzt alles schon so lange her. Ich bin hier
aufgewachsen, habe hier geheiratet und hier auch drei Kinder
großgezogen.«
Der kleine Hoffnungsfunke, der in Daisys Brust aufgeflackert
war, zerstob in einem entmutigenden Windstoß. »Sie haben drei Kinder?«
»Oh ja. Sie sind zwar alle weggezogen, aber sie kommen immer
noch so etwa einmal die Woche zu Besuch. Einer arbeitet in einer Bank,
einer mit Computern, und eine ist Schulsekretärin. Und sie haben mir so
viele entzückende Enkelkinder geschenkt.«
»Das ist ja wundervoll«, murmelte Daisy und ließ den Blick von
ihrer Reisegefährtin fort wieder zu der flachen grünen Landschaft
gleiten, die am Fenster vorüberhuschte. Kinder und Enkel. Familie.
Menschen, die es merken würden, wenn sie verschwände. Menschen, die
sich kümmerten.
»Wo wohnt Ihre Cousine?«, fragte Eve freundlich.
Daisy schwieg eine Weile, ehe sie antwortete, gerade lange
genug, um den Eindruck zu vermitteln, sie habe die Unterhaltung für
beendet gehalten. »In der Nähe der Kirche«, erwiderte sie leichthin.
Leyston würde ja wohl eine Kirche haben.
»Welcher Kirche?«
»Der Methodistenkirche, glaube ich.« Das müsste eigentlich
immer noch unverfänglich sein, denn wie viele Methodistenkirchen gab es
schließlich dort wohl?
»Ah, ich verstehe.« Eve ließ sich in ihren Sitz zurücksinken
und sah enttäuscht aus, dass ihre neue Freundin die Unterhaltung nicht
fortsetzen mochte.
Der Zug wurde langsamer, und Daisys Herz begann schneller zu
schlagen. Das war immer so, wenn sie zum ersten Mal in eine neue Stadt,
eine neue Heimat kam, doch da war auch noch etwas anderes –
ein Gefühl, als käme sie dieses Mal wirklich nach Hause. Das
hatte etwas mit dem salzigen Geruch des Meeres zu tun, mit dem
klagenden Schrei der Seemöwen, mit der unendlichen Weite gleich hinter
den Büschen, die den Bahndamm säumten. Und dann fuhren sie in den
winzigen Bahnhof ein, gerade einmal zwei Gleise, getrennt durch einen
Bahnsteig dazwischen.
Der Zug kam mit einem Ruck zum Stehen, und als Daisy vom
Fenster wegblickte, war sie beinahe erstaunt, dass die kleine alte Dame
ihr immer noch gegenübersaß. Sie hatte sie fast aus ihrem Bewusstsein
verbannt. »War nett, Sie kennenzulernen«, sagte sie.
»Sie auch. Ich hoffe, Ihre Cousine … Sie wissen
schon.«
»Danke.«
Daisy ließ die alte Frau zuerst aussteigen, und während diese
auf die Schaltersperre aus Glas und Metall zueilte – so anders
als das solide rote Backsteingebäude, das sie erwartet
hatte –, hantierte sie noch eine Weile mit ihrem Koffer herum,
um einigen Abstand entstehen zu lassen, bevor sie ihr folgte.
Daisy trat hinaus in den Sonnenschein und blieb stehen, um den
Anblick einzusaugen. Zu ihrer Linken wand sich eine Reihe dreistöckiger
Häuser mit großen Fenstern gemächlich in einer Kurve außer Sicht. Zu
ihrer Rechten ein Gasthaus, natürlich mit dem Namen Bahnhofshotel. Und
vor ihr, hinter einer von Büschen gesäumten dreieckigen Grünfläche, lag
die Nordsee, Wogend und sich bauschend wie ein graublaues Laken, das
zwischen den Gebäuden zu beiden Seiten befestigt war, damit es im Wind
flattern konnte. Hingerissen ging sie auf das Ufer zu. Wie lange war es
her, seit sie das Meer gesehen hatte? Sie konnte sich nicht einmal mehr
erinnern. All die Orte, all die Namen und Gesichter waren in ihrem
Gedächtnis miteinander verschmolzen. Sie wusste, irgendwann in ihrem
Leben war sie an der See gewesen, doch wann, das wusste sie nicht mehr.
Daisy warf einen Blick über die Schulter zurück, einen
Abschiedsblick auf das Leben, das sie hinter sich ließ, und fand ihr
Blickfeld ausgefüllt von einem Mietshaus im viktorianischen Baustil:
roter Backstein, hohe Fenster und eine schwere Haustür. Sie war achtlos
daran vorübergegangen, um von den modernen gläsernen
Fahrkartenschaltern zu der
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