Kaltes Gift
Kopie aus.«
Lapslie schlug den Ordner auf und blätterte die Seiten durch.
Einige waren offensichtlich getippt – wahrscheinlich von Dan,
Dr. Catheralls Assistenten –, andere dagegen waren
ausgedruckte E-Mails.
Er begann zu lesen, dann blickte er auf, weil er spürte, dass
sich die Atmosphäre im Raum unmerklich verändert hatte.
Dr. Catherall starrte den Computer an.
»Stimmt irgendwas nicht?«
»Ich habe den Computer heute Vormittag gar nicht benutzt«,
sagte sie. »Ich habe ihn nicht mal eingeschaltet, als ich gekommen
bin.« Sie stupste die Maus an, und der Bildschirm erwachte flackernd
zum Leben.
Auf dem Bildschirm war ein Textprogramm zu sehen, und die
Datei, die Lapslie soeben las, war an prominenter Stelle geöffnet.
»Jemand hat an meinem Computer rumgespielt«, fauchte Dr.
Catherall, und ihre milde Güte schlug plötzlich in etwas sehr viel
Finstereres um. »Dan!«
Schritte auf dem Gang, und der Gehilfe trat ein. Er trug ein
Tablett mit zwei Tassen nebst Untertassen, daneben eine Zuckerdose und
ein Sahnekännchen. »Ja, Doktor?«
»Haben Sie heute meinen Computer angeschaltet?«
Dan schüttelte den Kopf. »Ganz bestimmt nicht.«
»Wissen Sie, wer es getan hat?«
»Heute Morgen sind nur Sie und ich hier drin gewesen. Und die
Polizeibeamtin natürlich, aber die hat hier die meiste Zeit mit
Zeitunglesen zugebracht, soweit ich weiß. Der Computer war aus, als ich
ihn zuletzt gesehen habe.«
»Gut, aber jetzt ist er an.« Sie richtete den Blick auf das
Bücherregal. »Und der Drucker ist auch eingeschaltet worden.
Irgendjemand war hier drin und hat die Informationen ausgedruckt, die
wir über Violet Chambers haben!«
»Das ist unmöglich«, stieß Dan hervor und stellte das Tablett
auf den Schreibtisch. »Wozu sollte jemand das tun?«
»Und warum lässt er den Computer an?«, fragte Lapslie
stirnrunzelnd. »Warum lässt er die Datei auf dem Bildschirm?«
»Vielleicht wurden die Betreffenden gestört, als Dan Ihre
Mitarbeiterin hier hereingebracht hat«, meinte Dr. Catherall.
»Vielleicht mussten sie schnell verschwinden und hatten keine Zeit
mehr, den Computer herunterzufahren. Die könnten draußen durch die
Brandschutztür entkommen sein. Wenn sie ihren Wagen auf dem Parkplatz
abgestellt hatten, konnten sie in ein paar Sekunden wieder dort sein.«
Lapslie blickte von dem Computer zum Drucker und dann auf die
Akte, die er in der Hand hielt. Das ergab doch alles keinen Sinn. Ein
älteres Mordopfer, vergraben im Wald, das konnte
er noch verstehen. Solche Sachen waren auch früher schon passiert. Ein
Einbruch in ein Pathologielabor, um eine Akte zu kopieren, auch das
konnte er noch verstehen, wenngleich mit einiger Mühe. Es hatte Fälle
gegeben – für gewöhnlich Bandenmorde –, bei denen auf
höchst einfallsreiche Weise versucht worden war, Beweise zu fälschen;
einmal war, wie er sich erinnerte, sogar das Labor in Brand gesteckt
worden, in dem die Obduktion stattfand. Nein, es war die Kombination
aus beidem, die ihn aus dem Konzept brachte. Warum sollte der Mord an
einer alten Dame so wichtig sein, dass sich jemand Zugang zum Büro der
Pathologin verschaffte, um ihre Akten einzusehen? Das war wie eine
Kollision zweier Fälle, die absolut nichts miteinander zu tun hatten.
Er blickte Dr. Catherall an, deren Gesicht zu einer finsteren
Miene verzogen war. »Es fällt mir verdammt schwer, das hier zu
glauben«, sagte er. »Sind Sie ganz sicher, dass Sie Ihren Computer
nicht angelassen haben, als Sie gestern Abend gegangen sind?«
Dr. Catherall gab eine ätzende Antwort, doch Lapslie verstand
sie nicht. Etwas, das sie vorhin gesagt hatte, bohrte in seinem
Hinterkopf: dass derjenige, der sich Zutritt zu dem Büro verschafft und
den Computer hochgefahren hatte – wenn sie tatsächlich nicht
vergessen hatte, ihn gestern Abend auszumachen, oder wenn Emma Bradbury
ihn nicht aus unbekanntem Grund eingeschaltet hatte –, dass
derjenige seinen Wagen draußen auf dem Parkplatz abgestellt haben
könnte …
Und da wurde ihm klar, was es war. Als er sich diesen
mysteriösen Wagen bildlich vorstellte, war es ein schwarzer Lexus mit
getönter Windschutzscheibe.
Geradeso wie der, der in der Nähe der Stelle geparkt hatte, wo
Violet Chambers' Leiche entdeckt worden war.
Der davongefahren war, ehe er feststellen konnte, wer darin
saß.
5
D aisy Wilson ließ ihren Wagen –
oder Violets Wagen, wie sie bereits mit einer
Mischung aus Nostalgie und Abscheu dachte – in einer
Seitenstraße in
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