Kaltes Gift
den sie
vermittelte – oder nicht vermittelte. Das war etwas, das sie
sorgfältig kultivierte.
Aus irgendeinem Grund hatte Daisy eine alte Diesel-Lok aus den
fünfziger Jahren erwartet, die vier staubige blaue Waggons hinter sich
herzog; der Zug jedoch, den sie bestieg, war modern, angenehm hell, mit
elektrischen Türen, von Graffiti übersät. Dennoch hatte der Anblick des
in der Kurve herannahenden Zuges Daisy mit nostalgischer Sehnsucht
erfüllt, wobei sie befremdet feststellte, dass sie nicht einmal genau
wusste, wonach sie Sehnsucht hatte. Vielleicht einfach nach der
Vergangenheit selbst.
Daisy setzte sich in ein leeres Zweite-Klasse-Abteil. Ein
leichter Staubschleier stieg aus dem Polster auf, als sie Platz nahm,
und der seltsam vertraute Geruch weckte in ihr plötzlich die Erinnerung
an … ja, an was? An sie selbst, wie sie in einem Zug saß und
auf ein Meer aus roten Mohnblumen hinausblickte. Wie alt war sie da?
Und wo war sie gewesen?
Sie schüttelte den Kopf. Keine Zeit jetzt für Erinnerungen.
Der Zug fuhr mit einem Ruck an, und Daisy spürte, wie ihr Atem
vor freudiger Erwartung schneller ging, als ihr Waggon aus dem Schatten
des Bahnhofs heraus und gemächlich durch die Außenbezirke der Stadt
glitt, ehe er in der freien Landschaft beschleunigte. Die nächste halbe
Stunde lang betrachtete sie wie verzaubert vorüberrollende Felder und
Hügel, Heumieten und Scheunen und kleine Städte mit sinnträchtigen,
typisch britischen Namen wie Wivenhoe, Alresford, Great Bentley, Weely
und Kirby Cross.
Ihre ersten Möwen sah sie, als die Bahnlinie sich teilte. Der
rechte Abzweig führte weiter nach Clacton, der linke in Richtung
Frinton-on-Sea, Walton und Leyston-by-Naze. Die Möwen saßen in
Schwärmen auf Hausdächern oder segelten bedächtig über den Marschen von
Essex dahin, große, grau-weiße Vögel mit winzigen schwarzen Perlen als
Augen und mit grausamen, wie Fischmesser gebogenen Schnäbeln.
Als der Zug dann in Frinton hielt, spürte sie den prickelnden
Meeresgeruch in der Nase, salzig und kühl, ein Geruch wie sonst nichts
auf der Welt. Ein Geruch, der sich seit Urzeiten nicht verändert hatte,
lange vor Häusern, Gehöften und Menschen, vor Autos und Traktoren und
Zügen. Vielleicht der einzige originale Geruch, der auf dem Angesicht
des Planeten überdauert hatte.
Die Tür des Waggons öffnete sich, und eine ältere Frau stieg
ein. Trotz der Magerkeit ihrer Arme sackte die Haut an den Knochen
herunter, und die Venen auf ihren Handrücken waren knotig und
verschlungen wie die Wurzeln eines sturmgepeitschten Baumes. Unter der
selbstgestrickten Mütze, die ihr Haar verdeckte, schienen ihre Augen
und ihr Gesicht zu einem permanenten Lächeln gemeißelt zu sein.
»Guten Tag«, sagte sie. »Darf ich mich zu Ihnen setzen?«
»Ja, bitte«, erwiderte Daisy automatisch, obwohl sie spürte,
wie Enttäuschung durch ihren Körper sickerte und ihr die Laune verdarb.
»Ich hab mich hier schon ganz einsam gefühlt.«
Die Frau lächelte und ließ sich Daisy gegenüber nieder. Ohne
darüber nachzudenken, arrangierte Daisy ihre Hände im Schoß genau so
wie ihre neue Reisegefährtin.
Irgendwo auf dem Bahnsteig ertönte ein Pfiff, und der Zug
setzte sich in Bewegung.
»Auf Urlaub?«, erkundigte sich die Frau und blickte auf Daisys
Koffer.
»Meine Cousine ist krank geworden«, antwortete Daisy. Das war
ihre Standardausrede. Sie tappte sich vage an die Brust. »Es
ist … Sie wissen schon. Immer ins Krankenhaus rein und wieder
raus, da dachte ich mir, ich schau mal vorbei und vergewissere mich, ob
es ihr gutgeht.«
Die Frau nickte. »Entsetzlich«, sagte sie beifällig. »Immerhin
ist es ja verblüffend, was die Ärzte heute tun können.« Sie beugte sich
vor und streckte eine ihrer knorrigen Hände aus. »Mein Name ist Eve«,
sagte sie. »Eve Baker.«
»Daisy Wilson – nett, Sie kennenzulernen.« Daisy
schüttelte die dargebotene Hand und spürte, wie die papierene Haut sich
an den Knochen bewegte. Sie könnte Eves Handgelenk in die linke Hand
nehmen und diese Finger rückwärtsbiegen, bis sie brachen, einer nach
dem anderen, und Eve in atemlosen Schock und Schmerz versetzen. Wenn
sie wollte. Das Gefühl erregte sie.
»Und was ist mit Ihnen?«, fragte sie stattdessen. »Sind Sie
auch auf Urlaub?«
Wenn dem so war, hatte Daisy keine Verwendung für sie.
Obgleich sie gewöhnlich wartete, bis sie sich neu orientiert und
irgendwo eine Unterkunft gefunden hatte, bevor sie nach dem nächsten
Opfer Ausschau
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