Kaltes Gift
Colchester stehen. Sie hätte natürlich die ganze
Strecke damit fahren können, aber irgendetwas bewog sie, rund
fünfundzwanzig Kilometer von ihrem potenziellen Bestimmungsort entfernt
anzuhalten und ihre Reise mit dem Zug fortzusetzen. Zum Teil war es
ihre übliche Vorsicht, die sich so lange so gut bewährt hatte. Den
Wagen irgendwo abzustellen, wo er mit ihr in Verbindung gebracht werden
konnte, das machte sie kribbelig und unruhig, trotz der Anonymität, die
ihre neue Identität ihr verschaffte. Vor allem aber war es die
Tatsache, dass Autofahren sie nervös machte, während Bahnfahrten sie
beruhigten. Und wenn sie eine Weile in dieser Gegend leben wollte, dann
sollten ihre ersten Eindrücke glückliche sein.
Also verließ sie die relative Anonymität der Schnellstraße A12
und fuhr vorsichtig durch die Außenbezirke der Stadt, auf der Suche
nach dem nächsten Bahnhof. Sie war sich ziemlich sicher, dass die Züge
nach Leyston-by-Naze unterwegs in Colchester hielten, obwohl ihr nicht
ganz klar war, woher sie das eigentlich wusste. Das Problem war, in
Colchester gab es anscheinend drei verschiedene Bahnhöfe, und sie
wollte nicht zu weit von dem richtigen parken. Schließlich, nachdem sie
am Bahnhof Colchester und am Nordbahnhof vorbeigefahren und durch die
schlichte Architektur des Holländischen Viertels gekurvt war, vorüber
an der schroff kontrastierenden, überladenen Monstrosität des gotischen
Abbeygate Arch, landete sie schließlich am Stadtbahnhof Colchester, und
den wählte sie aus dem einfachen Grunde, dass er den Verkehrsschildern,
die Richtung Leyston-by-Naze zeigten, am nächsten lag.
Sie stellte ihren Wagen auf einem Behindertenparkplatz am Ende
einer ruhigen Straße mit kleinen Läden und Mietwohnungen darüber ab und
nahm lediglich einen kleinen Koffer und ihre Handtasche mit. Sie hatte
einen Behinderten-Ausweis für den Wagen – obwohl sie nicht
eigentlich behindert war –, den ließ sie auf dem
Armaturenbrett liegen. Dann rieb sie alle Stellen, die sie berührt
hatte, mit einem feuchten Tuch ab, das sie in Zuckerseifenlösung
getränkt hatte, und schloss den Wagen ab. Sie blickte sich um, als
suche sie eine bestimmte Ladenfront: Blumenhandlung, Antiquarische
Bücher, Wäscherei, Wettbüro, kleiner Supermarkt. Niemand beachtete sie.
Niemand würde später imstande sein, sie zu beschreiben. Trotz der Nähe
zum Bahnhof war dies eine ruhige Gegend, abseits der
Hauptverkehrsströme. Der Wagen müsste dort für ein paar Tage sicher
sein, bevor jemand misstrauisch wurde, und sie hatte durchaus die
Absicht, vorher wiederzukommen und ihn abzuholen.
Geistesabwesend tätschelte Daisy das Dach des Wagens mit der
behandschuhten Hand. Ein Volvo 740 Serie F in einem stumpfen
Bronzeton – ›Champagner‹ nannte man diese Farbe
wohl –; sie hatte ihn sich irgendwann auf ihrer Lebensreise
angeschafft und ihn behalten, weil er so vollkommen unauffällig war.
Niemand würde einen zweiten Blick darauf werfen. Und wahrscheinlich
würde niemand ihn stehlen. Schon weil er nicht einmal ein
funktionierendes Radio hatte, geschweige denn irgendetwas Moderneres.
Andererseits wäre es geradezu eine Wohltat, wenn jemand den
Wagen tatsächlich stahl. So ungern sie auch daran dachte, sich einen
neuen beschaffen zu müssen, es wurde Daisy immer deutlicher bewusst,
dass der Volvo eine Verbindung zu Violet Chambers darstellte. Eine
Verbindung, die zu kappen sie wirklich erwägen sollte. Nicht dass sie
emotional an dem Wagen hing – Daisy wusste ohne große
Herzensaufwallungen, dass sie emotional an nichts so hing, wie es bei
anderen Menschen wohl der Fall war. Es war einfach so: Der Wagen war
der Inbegriff von Unscheinbarkeit und Zuverlässigkeit. Außerdem hatte
er ein Automatikgetriebe, wodurch sie sich beim Fahren viel wohler
fühlte.
Sie schloss den Wagen ab und ging rasch in Richtung Bahnhof
davon, schwang den Koffer in der linken Hand. Zeit und Gezeiten
warteten auf niemanden, und sie konnte es kaum erwarten, das Meer zu
sehen.
Laut der Anzeigentafel in dem anonym-modernen
Bahnhof – überall Stahlträger, Säulen und Glas –
musste sie eine halbe Stunde auf den nächsten Zug warten. Also kaufte
sie sich mit Bargeld eine Fahrkarte und trank eine Tasse
labbrig-milchigen Tee im Bahnhofscafe. Dort roch es nach starkem Kaffee
und warmem Gebäck. Niemand nahm von ihr Notiz: Eine kleine Frau in
Tweedjacke und Hut, allein an einem Tisch, die an ihrer Tasse nippte.
Sie war sich des Eindrucks durchaus bewusst,
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