Kaltes Grab
losgehen, das angebliche Vorbild suchen und ihm ordentlich in den Hintern treten.
»Gavin, hat sich Ben Cooper schon gemeldet?«, fragte sie, als sie ihren Kollegen im Büro eingeholt hatte.
»Nein. Ich nehme an, er befragt das Personal oben im Snake Inn.«
»Wollen wir’s hoffen. Er hätte schon längst anrufen müssen.«
»Wahrscheinlich gönnt er sich einen leckeren Auflauf und ein paar Bierchen, wenn er schon mal da ist«, meinte Murfin. »So würde ich es jedenfalls machen.«
»Sofort an die Telefone, Gavin.«
»Ja Ma’am.«
»Und rühr ja den Hummer nicht an.«
Ben Cooper saß auf dem Sofa im Wohnzimmer der Lukasz’. Ihm war viel zu heiß. Obwohl sein schwerer Wachsmantel im Flur hing, hatte er immer noch das Gefühl, als müsste er in der warmen, miefigen Zentralheizungsluft ersticken.
»Es hört sich nicht so an, als interessierten Sie sich für die Vergangenheit«, sagte er. »Interessiert Sie denn die Geschichte Ihres Vaters überhaupt nicht?«
»Früher schon«, erwiderte Peter Lukasz. »Aber die Zeit vergeht, und die Leute ändern sich. Ab einem bestimmten Punkt muss man einfach nach vorn schauen.«
»Vielleicht sieht sich Ihr Vater noch nicht in der Lage, nach vorn zu schauen.«
»Da haben Sie wahrscheinlich Recht«, meinte Lukasz.
Grace Lukasz hatte sich zurückgezogen. Als sie hinausgerollt war, hatte Peter sich unsicher umgeschaut. Er wollte sich nicht setzen, sondern blieb vor dem Kamin stehen, wippte auf den Fersen und hielt den Blick über Coopers Schulter durchs Fenster auf die Straße gerichtet.
»Natürlich halten wir alle unsere polnische Herkunft in Ehren«, sagte Lukasz. »Aber die meisten von uns fühlen sich inzwischen ebenso britisch wie polnisch. Mein Vater entwickelt sich in die entgegengesetzte Richtung; er geht immer weiter zurück, verkriecht sich in seiner Vergangenheit und lebt schon fast wieder in der Zeit, als er noch kein Englisch konnte. Es ist ohnehin schon ein Balanceakt, zwei Nationalitäten gleichzeitig anzugehören. Deshalb kann ich es nicht brauchen, dass mich mein Vater in die falsche Richtung drängt.«
»Aber Sie wurden doch hier geboren? Ist es dadurch immer noch so ein Balanceakt?«
»Sie würden sich wundern«, sagte Lukasz. »Natürlich bin ich zur Hälfte Engländer. Aber jedes Mal, wenn ich gefragt werde, wie mein Nachname geschrieben wird, komme ich mir irgendwie fremd vor. Manche Polen haben ihre Namen anglisiert, als sie sich hier niederließen. Mein Nachname beispielsweise hätte sich ganz einfach in Lucas umwandeln lassen. Kein Mensch hätte je nachgefragt. Peter Lucas – hört sich doch gut an, oder nicht? Englischer geht’s kaum. Aber es gibt gewisse Leute, für die das eine Art Verrat darstellen würde, eine Verleugnung unserer Nationalität, eines lebenswichtigen Teils von uns.«
»Gehört Ihr Vater zu diesen Leuten?«
»Ja. Er und seine Schwester, meine Tante Krystyna.«
»Aber wie denken Sie selbst darüber?«
»Ich finde, das muss jeder für sich selbst entscheiden. Jeder von uns sollte sich fragen, ob er sich nun als Polen betrachtet oder als Engländer oder sonst was. Wichtig ist, wie der Einzelne seine Identität sieht und ob er bereit ist, etwas davon zu opfern, um sich anzupassen. Das ist die Frage, die wir uns stellen müssen.«
»Eine Frage, die nicht so einfach zu beantworten ist, wie sie klingt.«
»Haben Sie die Hand meines Vaters gesehen?«, fragte Lukasz.
»Sie meinen die fehlenden Finger?«
»Ja. Er hat sie nach dem Absturz verloren, Verletzungen und Erfrierungen. Weil es so lange gedauert hat, bis die Suchtrupps sie im Hochmoor geborgen haben. Mein Vater hatte seine Handschuhe ausgezogen, weil er das Blut stillen wollte, das aus Klemens’ Wunden quoll.«
Cooper nickte, obwohl das nicht in den Büchern gestanden hatte, die er gelesen hatte.
»Mein Vater und Klemens waren mehr als nur Cousins«, erklärte Lukasz. »Sie standen einander so nahe wie Brüder, und das ist keine Übertreibung. Nicht für polnische Verhältnisse. Sie sind zusammen aufgewachsen, in ihrem Dorf in der Provinz Polskie. Als die Deutschen kamen, sind sie zusammen nach Frankreich geflohen. Als Frankreich ebenfalls besetzt wurde, mussten sie auch von dort fliehen. Hitler nannte die polnischen Soldaten ›Sikorski-Touristen‹, nach ihrem Befehlshaber und weil sie von einem Land zum anderen zogen. Er hätte lieber nicht so verächtlich von ihnen sprechen sollen, sie haben nämlich zu den besten Kämpfern überhaupt gehört. Sie haben aus
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