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Kaltes Grab

Titel: Kaltes Grab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Booth
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Autos und Wohnwagen auf einer Wiese unmittelbar neben dem Queen’s Park abgestellt; Grace hatte gesehen, wie ihre Hunde herumgestreunt waren und wie sich der Müll am Rand der Wiese mit jedem Tag höher getürmt hatte. Es war ihr vorgekommen, als würde sie zusehen, wie der Winter hereinbrach und die Landschaft starb, als würde sie sehnlichst auf den ersten Frühlingstag warten, an dem die Sonne wieder herauskam und man endlich wieder alles aufräumen und säubern konnte. Mit dem gleichen Gefühl der Ohnmacht, der gleichen Ungeduld hatte sie darauf gewartet, dass dieses Ärgernis aus ihrem Leben verschwand.
    Eines Morgens waren die Zigeuner tatsächlich verschwunden. Sie hatten sich vor Tagesanbruch aus dem Staub gemacht und auf der Wiese ein Meer aus Abfall und auf der Straßenböschung allen möglichen anderen Unrat hinterlassen. Was kümmerte es sie, wohin die Zigeuner weiterzogen? Was kümmerte es sie, wohin der Schnee verschwand? Der Schnee wurde irgendwie von der Erde aufgenommen, das war alles, was zählte. Die Natur hatte eine Art Selbstreinigungsrhythmus, den sie tröstlich fand.
    Grace wandte sich wieder dem Zimmer zu. Sofort fiel ihr Blick auf das Familienfoto in der Nische neben der Tür. Sie und Peter, Zygmunt und Krystyna, die Enkelkinder auf den Knien. Einmal, noch vor der Hochzeit, hatte sie versucht, Peter zu überreden, ihren Nachnamen zu ändern, weil sie es ihren zukünftigen Kindern leichter machen wollte. »Lucas« wäre doch eine gute Alternative, hatte sie vorgeschlagen. Es wäre eigentlich nur eine Änderung der Schreibweise gewesen, die Aussprache wäre praktisch gleich geblieben. Doch Peter hatte sich geweigert. Er hatte ihr in einem Ton geantwortet, den sie noch nie an ihm gehört hatte, ein Ton, der sie verstummen ließ und schließlich davon abhielt, weiter mit ihm darüber zu streiten. Er hatte seine Ablehnung nie begründet, und sie hatte ihn auch nie mehr danach gefragt.
    Sie betrachtete das Gesicht des alten Zygmunt, die stolze Kopfhaltung und den offenen Blick. Mit dem Alter wurde Peter seinem Vater immer ähnlicher. Manchmal, wenn sie genauer hinsah, bemerkte sie einen veränderten Ausdruck in den Augen ihres Ehemannes, wenn sein Vater ihn »Pjotr« nannte. Ihr war es nie gelungen, diesen Blick hervorzurufen, nicht einmal in ihren intimsten Momenten. Wie oft sie seinen Namen auch flüsterte, dieser stolze Blick ließ sich nicht heraufbeschwören. »Peter« hatte für ihn nicht dieselbe Bedeutung wie sein polnischer Name. Einen Augenblick lang wünschte sie sich, sie könnte diese Wirkung erzielen, indem sie ihn ebenfalls »Pjotr« nannte. Aber sie wusste, dass es zu spät war, diese Gewohnheit jetzt noch zu ändern.
    Als sie einen Wagen kommen hörte, rollte Grace rasch zum Fenster. Unmittelbar hinter ihrer Hecke parkte ein Ford am Straßenrand ein. Sie sah einen Mann mit hellem Haar auf dem Fahrersitz. Es war nicht Andrew. Auf der Beifahrerseite stieg eine Frau aus. Einen kurzen Moment blieb ihr Blick auf Grace hängen, dann wandte sie sich ab und ging zu der Tür zwei Häuser weiter, während der Fahrer winkte und davonfuhr. Grace stieß den angehaltenen Atem aus. Auch sie war es nicht. Noch nicht.
    Frank Baine wartete, bis er sicher war, dass man ihm immer noch aufmerksam zuhörte. Alison Morrissey ließ Chief Superintendent Jepson nicht aus den Augen. Sie wollte den Chief mit schierer Willenskraft zum Zuhören zwingen, doch Ben Cooper kannte Jepson gut genug, um zu erkennen, dass er längst abgeschaltet hatte. Wahrscheinlich hatte er bereits im Voraus entschieden, wie viel Zeit er der Sache zu opfern bereit war. Cooper wunderte sich, wie schnell die Zeit verging.
    »Der ehemalige Fliegerleutnant Zygmunt Lukasz ist der einzige Überlebende der Besatzung der Sugar Uncle Victor«, erklärte Baine. »Lukasz war damals einer der Jüngsten, aber auch er ist inzwischen achtundsiebzig. Und wie es der Zufall will, wohnt er hier in Edendale.«
    »Dann wollen Sie ihn bestimmt besuchen«, sagte Jepson, als wollte er damit andeuten, dass es dafür keinen besseren Zeitpunkt gäbe als jetzt. Jetzt sofort.
    »Wir haben mit den Lukasz’ Kontakt aufgenommen«, sagte Baine. »Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass sie nicht sehr daran interessiert sind, mit uns zusammenzuarbeiten.«
    »Schade«, meinte Jepson.
    »Am Tag des Absturzes hat der Pilot wie vorgeschrieben die Sichtfluglage bei der Flugkontrolle abgefragt«, fuhr Baine fort. »Man hatte ihn über eine durchbrochene Wolkendecke in

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