Kaltes Grab
wohingegen der einzige Flieger auf dem Gruppenfoto mit Schnurrbart als der Pilot, Danny McTeague, angegeben wurde. Das hier war nicht McTeague. Dieser junge Mann besaß eine vorspringende Nase und ein schmales Gesicht, und unter seinem Fliegerhelm lugte eine dunkle Haarsträhne hervor, die ihm in die Stirn fiel. Cooper nahm an, dass es sich um Sergeant Dick Abbott handelte, den Heckschützen, der damals erst achtzehn Jahre gewesen war. Die anderen hatten ihn Lofty genannt, weil er nur einsfünfundsechzig groß war.
Cooper betrachtete das Foto lange und vergaß völlig, zu den vielen anderen Flugzeugen weiterzublättern, die am Dark Peak verunglückt waren. Es kam ihm vor, als wollte der junge Flieger über die Kluft von über fünf Jahrzehnten hinweg mit ihm in Verbindung treten. Vor noch nicht allzu langer Zeit war er selbst so alt wie dieser Junge gewesen. Cooper versetzte sich unwillkürlich in die Lage des jungen Mannes. Er spürte die Fallschirmriemen an den Schultern und den derben Uniformstoff auf der Haut, hörte das Dröhnen der vier Merlin-Motoren und spürte das Vibrieren der primitiven Maschine, die ihn in die Lüfte tragen würde. Er war erst achtzehn Jahre alt, und er hatte Angst.
Ben Cooper bemerkte kaum, wie sich der Abschleppwagen mit blinkenden Warnlichtern und bullerndem Dieselmotor durch die enge Beeley Street schob. Er war so damit beschäftigt, seine Gefühle zu ordnen, dass er zuerst nicht hörte, wie Gavin Murfin an die Scheibe klopfte, weil er mit den tropfenden Behältern im Arm die Tür nicht aufbekam.
Kaum hatte sich Murfin auf den Beifahrersitz gezwängt, füllte sich das Wageninnere mit dem Duft von Curry und Kochreis. Der Dampf aus den Behältern ließ die Fenster beschlagen, bis die Beeley Street und Eddie Kemps Isuzu beinahe vollständig im Dunst verschwanden.
»Hier ist dein Fladenbrot«, sagte Murfin. »Wenn du willst, kannst du es gern bei mir einstippen.«
Doch die Tüte blieb ungeöffnet auf Coopers Schoß liegen, das Fett drang durch das Papier bis zu seinem Mantel.
Erst jetzt fiel ihm auf, dass es der Ausdruck in den Augen des jungen Mannes war, der ihn so deutlich von den Männern auf dem Gruppenbild unterschied, weshalb man ihn zwischen den posierenden, lächelnden Helden auch nicht wieder erkannte. Es war der ausdruckslose, leere Blick eines Mannes, der keine Ahnung hatte, ob er die nächste Nacht überleben und heil wieder zurückkehren würde. Der Blick des jungen Mannes erzählte von der Aussicht, im Maschinengewehrfeuer eines deutschen Nachtjägers zu sterben, oder davon, dass die Motoren der Lancaster womöglich versagten und sie in der eisigen Nordsee notlanden mussten. Der Bildunterschrift zufolge waren die Lancasters dafür berüchtigt, dass man nur schwer aus ihnen herauskam, sobald sie erst einmal im Wasser waren.
In Wahrheit ließen der gehetzte Blick und die grobkörnigen Grautöne des Bildes den Flieger fast aussehen, als sei er schon nicht mehr da. Es hätte einfach ein verblasstes Porträt sein können, das jemand in die Aufnahme des Flugzeuginneren hineinkopiert hatte, oder das Ergebnis einer versehentlichen Doppelbelichtung.
Ben Cooper hatte den Eindruck, als hätte der Fotograf eine Art Vorahnung oder ein böses Omen festgehalten, einen kurzen Blick in die Düsternis der nahen Zukunft. Mit seinen achtzehn Jahren sah Sergeant Dick Abbott aus wie sein eigener Geist.
9
Z urück in der West Street, wühlte sich Ben Cooper durch die Unterlagen, die sich auf seinem Schreibtisch angesammelt hatten, bis er den Bericht fand, den der Nachrichtenoffizier für das Treffen mit Alison Morrissey erstellt hatte. Im Gegensatz zu dem Buch aus Lawrences Laden fanden sich darin kaum Einzelheiten über den Absturz und die Besatzung der Lancaster, doch er hatte einen Vorteil: Er enthielt die Namen der beiden Jungen, die ausgesagt hatten, den gesuchten Flieger in jener Nacht auf der Straße zum Blackbrook Reservoir gesehen zu haben.
Cooper erinnerte sich an diesen Punkt, denn Morrissey hatte sich während der Besprechung beschwert, es sei ihr nicht gelungen, die Namen der beiden festzustellen, da sie damals in keinem Bericht erwähnt worden seien. Es wäre unklug gewesen zuzugeben, dass er diese Information unmittelbar vor seiner Nase liegen hatte; jedenfalls wäre der Chief von einer so offensichtlichen Hilfsbereitschaft bestimmt nicht begeistert gewesen. Aber das bedeutete, dass der NO bei der Recherche gründlich gearbeitet hatte. Oder Alison Morrisseys
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