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Kaltes Herz

Kaltes Herz

Titel: Kaltes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Freise
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Sie konnte nicht hinaussehen, aber die schwankenden Bewegungen waren gleichförmig, es ging immer geradeaus. Es war, als ob sie im Innern einer stinkenden Schmeißfliege reiste. Die Dunkelheit war matt, sie hatte nichts von der subtil durchleuchteten Schwärze des Nachthimmels, es war die Höhlendunkelheit, die sie während ihrer Fieberträume so geängstigt hatte. Es ist wie in jeder anderen Kutsche, sagte Henriette sich, als sich erste Anzeichen von Übelkeit bemerkbar machten. Aber es war eben doch anders. Statt des rhythmischen Geklappers von Pferdehufen war hier nur stetes Brummen zu hören. Statt Leder und Tier roch sie Öl und Dreckwäsche. Sie saß in einer Maschine, die lebendig geworden war, mit einem Herz, das sich zu drehen schien wie ein rasender Kreisel. Wenn der Kosmos ein Symphonieorchester war, in dem alles auf Rhythmus basierte, dann musste dies ein anderer Kosmos sein, eine andere Welt, in der alles auf Klang basierte. Die Vorstellung machte Henriette Angst. Ohne Rhythmus gab es kein Licht, das der Dunkelheit gegenüberstand, keinen Wind, der den Gestank verwehte, keine Ankunft am Ende der Reise. Ohne Rhythmus würde alles für immer so weitergehen, gleichförmig und ohne Ausweg. Henriette bekam nicht mehr genügend Luft in die Lungen, es war zu stickig, und die Übelkeit nahm zu. Sie wollte wieder vorne mitfahren. Sicher waren sie längst weit genug vom Hof der Pflogs entfernt, niemand kannte sie hier, niemand konnte sie erkennen, wenn sie vorne mitfuhr.
    Henriette tastete sich zur vorderen Wand des Laderaums durch, schlug mit der Faust dagegen und wartete. Der Wagen wurde langsamer, zog dann nach links hinüber und schien ein Stück weit über eine Lehmstraße oder einen Feldweg zu holpern. Henriette schlug noch einmal gegen die Wand, und endlich hielt der Wagen an. Die hintere Tür öffnete sich, blauer Abenddämmer flutete herein, zusammen mit kühler Luft, die Henriette erleichtert in ihre Lungen sog.
    Heinz Graf sagte nichts, sah sie nur mit diesem immer noch flackernden Ausdruck in den Augen an, der Henriette so wenig gefiel. Sie saß auf den Wäschesäcken, blickte an Heinz Graf vorbei in ein klammes, schnell dunkel werdendes Nirgendwo, auf Bäume, Büsche, tropfende Düsternis.
    «Sie haben mich da vorhin auf eine Idee gebracht», sagte Heinz Graf.
    Henriette wollte nicht wissen, was für eine Idee das gewesen sein konnte, nicht wenn der Mann mit dieser kurzatmigen, rauen Stimme sprach.
    «Lassen Sie mich aussteigen.»
    Sie wollte an ihm vorbei aus dem Wagen klettern, doch er stieß sie zurück, sodass sie rücklings auf die Wäschesäcke fiel.
    «Schön weich», sagte er, genau wie vorhin, als sie eingestiegen war, doch diesmal hatten die Worte einen bedrohlichen Unterton. Dann stieg Heinz Graf zu ihr in den Laderaum. Als er die Tür schloss, war Henriette erneut von dieser drückenden Finsternis umgeben, nur dass diesmal keine Armeslänge von ihr etwas bei ihr war, das nicht menschlich war, sondern wild, tierisch, unkontrollierbar. Henriette wusste, dass es keinen Sinn hatte zu schreien. Es war niemand hier, der sie hören könnte. Stattdessen versuchte sie auszuweichen, an Heinz Graf vorbeizugelangen und die Wagentür zu erreichen. Ihre Finger spürten schon das Metall, sie musste nur den Griff finden, gleich … Als er ihr von hinten eine Hand auf den Mund presste, spürte sie seinen knochigen Unterarm an der Kehle, und als er sie bäuchlings auf die Wäschesäcke warf, trat sie um sich. Sie fand keinen Halt in den weichen Stoffbergen, rutschte tiefer zwischen die Säcke und begriff, was gleich geschehen würde. Sie hatte genug von Idas Buch gelesen, und sie hatte selbst erlebt, dass es die Macht besaß, im Leser das Verlangen zu wecken nachzuleben, was es beschrieb. Es weckte das Feuer, und für Heinz Graf schien es zu genügen, es kurz in der Hand gehalten, nur kurz einen Blick auf eines der Bilder geworfen zu haben. Dass es so schmerzhaft sein würde, so trostlos und grauenvoll, hatte Henriette sich jedoch nicht ausgemalt. Heinz Graf war schwer, und sie war zwischen den Wäschesäcken eingeklemmt, das Gesicht in Berge von stinkendem Stoff gepresst. Sie hörte Stoff reißen, sie fühlte ihr eigenes Fleisch reißen, der Schmerz sengte sich durch ihren Leib bis in die Brust hinauf, und als es kein Ende nahm, wusste Henriette, dass sie ihre Angst vergessen musste. Alles, worauf es ankam, war der nächste, mühsame, unmögliche Atemzug durch Berge von Stoff.

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