Kaltes Herz
ab.
Kurz überlegte Henriette, die Scherben des Wasserkrugs, der durch die Erschütterungen im Haus vom Waschtisch gefallen war, fortzuräumen, ihr Bett zu machen, ihre Kleider in die Reisetasche zu packen. Doch im Grunde spielte das alles keine Rolle, das Haus lag ohnehin in Scherben, und ihre Reisetasche würde sie auf dem Weg nach Hause nur unnötig beschweren. Henriette nahm den Violinkasten mit Idas Buch und Professor Regenmachers Medaillon, zog Hut und Mantel an und atmete ein paarmal tief durch, um Mut für den Weg nach unten zu sammeln, dorthin, wo Onkel Heinrich war.
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21
H einz wollte wie gewohnt in den Hof fahren, wollte das Dröhnen des Motors in der Einfahrt in den Ohren haben, er lenkte scharf nach rechts und konnte gerade im letzten Moment noch anhalten. Das Tor war geschlossen. Heinz ließ den Motor laufen und stieg vom Fahrersitz, um es zu öffnen. Verwundert stellte er fest, dass abgesperrt war. Das war neu. Auch der vordere Eingang, der in Frau Pflogs Geschäftsräume führte, war verschlossen. Heinz lief ein paar Meter an der Hofmauer entlang in die eine Richtung, dann in die andere Richtung, aber er fand keine Stelle, an der er leicht hätte hinüberklettern können, und er hatte keine Lust, um das ganze Anwesen herumzulaufen. Also griff er eine Handvoll nassen Kies vom Straßenrand und warf ihn gegen ein Fenster im ersten Stock.
Keine Reaktion.
«Da kommt man extra den weiten Weg hier raus …»
Heinz probierte es noch ein paarmal, lauschte, aber außer den gewohnten regelmäßigen Maschinengeräuschen war nichts zu hören. Gerade als er gehen wollte, öffnete sich oben doch noch ein Fenster.
Heinz hatte das Mädchen seit dem Kuss nicht gesehen. Normalerweise vergaß man einen Kuss, sobald er zu Ende war. Er konnte jeden Tag zehn Küsse haben, wenn er wollte. Aber diesen hatte er nicht vergessen. Wie sie sich gegen ihn gewehrt hatte! Ein geraubter Kuss war viel aufregender als ein verdienter.
«Warum ist das Tor geschlossen?», rief Heinz.
Das Mädchen legte einen Finger an die Lippen und bedeutete ihm zu warten. Sie führte sich wie eine Gefangene auf, genau wie damals, als er ihren Brief mitgenommen hatte. Vielleicht gingen in diesem Haus tatsächlich seltsame Dinge vor. Konnte man so etwas mit Sicherheit wissen? Zumindest schien das Mädchen Geheimnisse zu haben.
«Bitte, fahren Sie nicht weg!», sagte sie, kurz ihren Kopf am Fenster zeigend, und verschwand erneut.
Ganz sicher würde er nicht wegfahren. Was immer sie ihm für ein Schauspiel bieten würde, er war entschlossen, es sich nicht entgehen zu lassen.
Henriette hatte einfach das Haus verlassen, über den Hof und hinaus auf die Straße gehen wollen, um sich zu Fuß auf den Weg nach Gramstett zu machen. Doch die Tür zum Hof war verschlossen gewesen und alle anderen Türen im Haus ebenfalls, die Bürotür, Küche, Essstube, Betstube. Selbst die grüne Tür zum Westflügel war wieder zugeschlossen worden. Henriette wusste nicht, ob Onkel Heinrich oder Tante Johanne dafür verantwortlich war, aber das spielte auch keine Rolle. Was entscheidend war: Sie kam nicht hinaus.
Also war sie zurück auf ihr Zimmer gegangen, hatte sich hingesetzt und den Riss beobachtet, der hinter Idas Bett an der Wand erschienen war und der stündlich wuchs und sich verästelte wie ein kahler Winterbaum auf der schneeweißen Wand. Er musste sich wegen der Erschütterungen, die unaufhörlich durchs Haus liefen, von Tante Johannes Büro heraufgefressen haben. Henriette lauschte auf die Maschine im Keller, auf die Geräusche in Katharinas Zimmer nebenan, auf Schritte oder Stimmen weiter unten im Haus. Doch es blieb gespenstisch still, keine Stimmen, keine Schritte, und Henriette begann sich zu fragen, ob Heinrich Tante Johanne etwas angetan haben konnte. Oder vielleicht sogar andersherum? Henriette saß, den Violinkoffer auf dem Schoß, mit schweren Lidern da, schreckte auf, wann immer sie ein neues Instrument im Orchester zu hören meinte, die jedoch immer zu verschwinden schienen, sobald sie die Ohren spitzte. Irgendwann würde der Moment kommen, die Gelegenheit zu entwischen, sie musste nur aufpassen. Als ein Schauer kleiner Steine an ihr Fenster prasselte, wusste sie, dass der Moment gekommen war.
Als sie hinausblickte, sah sie den Wagen von Heinz Graf. Es musste bereits später Nachmittag sein, wenn er jetzt wegen der Wäsche kam, sie musste Stunden auf dem Stuhl zugebracht haben, ohne es richtig zu merken. Vielleicht
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