Kaltes Herz
war es gut so, dass sie nicht zu Fuß hatte losgehen können. Mit Heinz Grafs Automobil würde sie viel schneller und sicherer nach Gramstett kommen.
Nachdem sie Heinz Graf auf sich aufmerksam gemacht hatte, zog Henriette ihr und Idas Bett ab. Das Leinen war steif, und es war schwierig, die Knoten so fest zu ziehen, dass noch genügend Stoff übrig blieb, an dem sie aus dem Fenster hinabklettern konnte. Es wäre besser gewesen, die Laken erst der Länge nach zu zerschneiden, aber sie hatte keine Schere, sie hatte gar nichts hier, nicht einmal frisches Wasser, und plötzlich spürte Henriette, wie stark ihr Durst war. Sie steckte ein zweites Mal den Kopf aus dem Fenster, um sich zu vergewissern, dass der Fahrer noch da war.
«Ich bin gleich so weit», sagte sie und hoffte, dass niemand sonst sie hörte. «Bitte warten Sie!»
Sie band die zusammengeknoteten Laken ans Fensterkreuz und ließ zuerst den Violinkoffer hinab, den sie ans andere Ende gebunden hatte. Dann schwang sie die Beine aus dem Fenster. Obwohl es nicht tief war, vielleicht vier Meter, überkam sie ein flaues Gefühl.
«Ho, warten Sie», rief der Wäschefahrer. «Was soll denn das werden?»
Henriette hörte nicht hin, sie musste sich konzentrieren. Sie wickelte das Laken um ihren linken Unterarm, packte mit beiden Händen fest zu, ließ sich aus dem Fenster gleiten, bis ihre Füße den Knoten fanden, der das erste mit dem zweiten Laken verband. Das Fensterkreuz ächzte unter ihrem Gewicht. Sie ließ sich ein Stückchen tiefer hinab, versuchte ihre Beine um die Laken zu schlingen, fand jedoch keinen richtigen Halt.
«Sie müssen sich mit den Füßen an der Hauswand abstützen», sagte der Fahrer, der jetzt direkt unter ihr stand, die Arme ausgestreckt, bereit, sie im Notfall aufzufangen.
Henriette tat, was er sagte.
«Genau. Und jetzt laufen Sie sozusagen an der Wand hinab. Schritt für Schritt. Und mit den Händen nachkommen. Ja, so!»
Henriette kam schwitzend und mit klopfendem Herzen unten an, und dann musste sie lachen, musste sich geradezu krümmen vor Lachen. Sie war aus dem Fenster geklettert wie ein Verbrecher. Oder wie ein Kind, das von zu Hause fortläuft. So war es ja in gewisser Weise auch. Nur dass sie eben nach Hause wollte und nicht in die Ferne.
Heinz Graf sah sie mit in die Seiten gestemmten Fäusten kopfschüttelnd an. Er schien nicht zu wissen, was er von ihr halten sollte, doch Henriette meinte auch, eine gewisse Bewunderung in seinem Blick zu sehen.
«Ich muss nach Gramstett. Nehmen Sie mich mit?»
Sie bückte sich nach ihrem Violinkasten und band ihn los.
«Und dann kriege ich Schwierigkeiten mit Frau Pflog? Oder wie stellen Sie sich das vor? Was ist denn hier überhaupt los?»
Henriette schüttelte den Kopf und zog ihn am Arm hinter sein Automobil, dessen Motor noch immer lief, damit man sie vom Haus aus nicht sehen konnte.
«Die Wäscherei ist geschlossen. Und ich glaube nicht, dass sie in nächster Zeit wieder öffnet. Es hat einen Unfall gegeben.»
Henriette schloss die Augen und schluckte. Sie hatte den ganzen Tag lang beinahe erfolgreich nicht daran gedacht, und sie hatte auch jetzt keine Zeit, das Grauen, die Traurigkeit und das Mitleid an sich heranzulassen. Professor Regenmacher hatte recht, ihre Seele lag oft viel zu bloß. Alles, worauf es jetzt ankam, war, dass sie fortkam. Sie musste Charlie finden. Sie musste ihm die Violine geben. Und sie musste sein, wer sie war, auch wenn sie sich im Augenblick nicht sicher war, was das bedeutete.
Heinz Graf blickte sie skeptisch an.
«Ein Unfall?»
«Sie haben doch selbst gemerkt, dass das Tor geschlossen ist. Und niemand weiß, dass Sie mich mitgenommen haben, wenn Sie es niemandem sagen. Die sehen nur die Laken und denken, dass ich fortgelaufen bin.»
«Warum laufen Sie denn fort?»
«Was Sie nicht wissen, können Sie auch niemandem verraten, richtig?»
Henriette blickte Heinz Graf herausfordernd an. Sein Gesicht glich dem einer großen Maus, spitz, die Augen ausdruckslose Knöpfe. Was dachte er, was würde er tun? Ein Grinsen huschte über sein Gesicht.
«Und die Gegenleistung?»
Der Gedanke bereitete Henriette Übelkeit, dennoch sprach sie ihn aus:
«Sie wollen einen Kuss?»
«Na, wenigstens!»
Ohne auf ihre Erlaubnis zu warten, griff der Fahrer nach Henriette, ein Arm umschlang ihre Taille, der andere ihre Schultern, und dann war sein Mund auf ihrem.
Sie wollte ihn nicht verärgern, doch sie hatte ihre Reaktion nicht unter Kontrolle, sie ertrug seine
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