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Kaltes Herz

Kaltes Herz

Titel: Kaltes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Freise
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Berührung ganz einfach nicht. Ihre Finger krümmten sich von ganz allein, und dann zog sie ihm die Fingernägel mit einer schnellen Bewegung mitten durchs Gesicht.
    «Meine Herren» war alles, was er sagte, als er sie losließ.
    Henriette packte ihren Violinkasten fester, davon ausgehend, dass sie sich ihre Mitfahrgelegenheit gerade verspielt hatte, und machte sich ohne weiteres Zögern zu Fuß auf den Weg Richtung Gramstett. Egal wie lange es dauerte, sie ging lieber zu Fuß, als dieses Rattengesicht noch einmal zu küssen. Sie hoffte nur, dass Tante Johanne ihr nicht Katharina mit dem Einspänner hinterherschickte. Sie hoffte, dass ihr Fehlen lange genug unbemerkt bleiben würde. Und sie hoffte, dass es Maria gutging. Sie blickte sich nicht um, als sie Heinz Grafs Automobil hinter sich herankommen hörte.
    «He!», sagte er. «Stehen geblieben!»
    Henriette lief weiter.
    «Soll ich Sie bis zum Bahnhof fahren?»
    Erst jetzt blieb Henriette stehen.
    «Ich würde sehr gerne mit dem Zug nach Berlin fahren. Nur habe ich kein Geld.»
    Der Fahrer atmete langsam ein, dann wieder aus. Er hatte vier leuchtend rote Striemen im Gesicht.
    «Nicht mal Geld also. Sie sind mir eine. Wie stellen Sie sich das denn vor?»
    «Wenn Sie mich nach Berlin bringen, kann meine Mutter Sie entschädigen.»
    Henriette wartete, Heinz Graf ließ sich Zeit mit der Antwort.
    «Na gut, springen Sie rauf. Mal sehen, wie weit wir zwei miteinander kommen.»
    Henriette nahm die Hand, die der Fahrer ihr entgegenstreckte, und ließ sich von ihm hinaufhelfen. Den Violinkasten zog sie hinter sich her und legte ihn neben sich auf die Bank. Noch bevor sie sich richtig festhalten konnte, schoss der Wagen los.
    Henriettes Magen machte einen Satz, aber nach ein paar Minuten gewöhnte sie sich an die wilde Fahrweise von Heinz Graf und genoss es, wie die Bäume der Allee links und rechts vorbeiflogen, wie das Gras am Straßenrand zu einem einheitlich grünen Streifen verwischte, wie sie auf der Bank auf und ab hüpfte, wenn der Wagen über Unebenheiten auf der Straße hinwegraste. Sie achtete nicht auf den Violinkasten neben sich, und sie bekam ihn nicht zu fassen, als er abstürzte und auf die Straße schlug.
    «Oh! Nein! Halten Sie an!»
    Henriette lief die Strecke bis zu der Stelle zurück, wo der Kasten heruntergefallen war.
    Der Kasten war aufgesprungen, die Violine lag nicht mehr in ihrem violetten Samtbett, sondern einige Meter weiter. Vorsichtig nahm Henriette sie auf, betrachtete sie von allen Seiten, während Heinz Graf vom Wagen stieg und auf sie zuschlenderte. Bis auf einen abgebrochenen Stimmwirbel und paar hässliche Schrammen, die man ausbessern konnte, schien die Violine unversehrt. Henriette legte sie zurück in den Koffer. Zwei Meter weiter fand die das Medaillon. Dann sah sie sich nach dem Buch um. Es konnte nicht weit sein. Hoffentlich war es nicht in den Graben gefallen, der mit Wasser und Entengrütze gefüllt neben der Straße entlanglief. Gerade als sie es entdeckte, bemerkte Heinz Graf es ebenfalls. Es lag, den dunklen Buchrücken nach oben, auf der Straße genau zwischen ihnen.
    Gott, lass ihn nicht hineinschauen, betete Henriette, während sie auf ihn zulief. Vielleicht konnte sie es verhindern. Heinz Graf hob das Buch auf, wendete es um. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. Sicher hatte er nichts bemerkt. Als Henriette ihm das Buch aus der Hand nehmen wollte, sah sie, dass sie sich geirrt hatte. Heinz Graf hielt das Buch fest, und es war ein Bild aufgeschlagen, das zwei Schülerinnen zeigte und den Lehrer, der ihnen zusah und Anleitung gab.
    Als er das Buch schließlich losließ, blickte Heinz Graf Henriette auf eine Weise an, die sie zum Wegsehen zwang. Schnell verstaute sie das Buch im Violinkasten.
    «Sie steigen jetzt besser hinten ein», sagte Graf mit einem seltsamen Flackern in den Augen. War er wütend? «Wenn Sie auf der Flucht sind, dann ist es wohl besser, wenn niemand Sie mit mir sieht.»
    Henriette war froh, dass sie nach diesem Zwischenfall nicht wieder neben Heinz Graf Platz nehmen musste, und stieg bereitwillig in den Laderaum des Wagens. Dort war es dunkel und roch muffig nach der alten Wäsche, die Heinz Graf heute nicht losgeworden war, und die Säcke bedeckten die gesamte Ladefläche. Henriette blieb nichts übrig, als hinaufzuklettern und es sich zwischen deren Ausdünstungen bequem zu machen.
    «Schön weich», sagte Heinz Graf. Dann schloss er die Tür, und Henriette saß im Dunkeln.
    Der Wagen fuhr an.

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