Kaltes Herz
Inhaltsübersicht]
22
E rst hatte Charlie am Gottesdienst teilgenommen, dann war er mit anderen Gefangenen im Nieselregen in einem von drei kreisrunden Höfen umhergegangen, bis er das Gefühl hatte, nie wieder geradeaus gehen zu können, er hatte Kohlsuppe gegessen und sich zwei Verhören unterzogen, bei denen er sich strikt an die Wahrheit gehalten und man ihm dennoch nicht geglaubt hatte. Es war absurd, im Gefängnis zu sein, dem Hort der tödlichen Langeweile, dem Inbegriff des Nichtstuns und Wartens, und dann den ganzen Tag herumgeschickt zu werden. Erst als alle Gefangenen in ihren Zellen waren, das Licht grell hereinschien und der wachhabende Mann in unregelmäßigen Abständen den Gang heraufkam, um nach dem Rechten zu sehen, fand Charlie Gelegenheit, sich das Album anzuschauen, das Willem ihm gebracht hatte. Vorsichtig schlug er es auf. Was er sah, war nichts Kompliziertes. Lediglich Melodien im Viervierteltakt, rhythmisch anspruchslos, alles im Violinschlüssel. Begleitung war in Form von Akkordbezeichnungen über den Notenzeilen lediglich angedeutet. Gut, wenn man ein Gesangsstück einstudierte. Charlie blätterte das Album durch. Dann schüttelte er es vorsichtig, um zu sehen, ob nicht doch etwas aus den Seiten fiel, er tastete den Umschlag ab, ob hier vielleicht etwas eingeklebt war. Nichts. Was wollte Altheim ihm mit diesen Noten sagen? War es etwas, was Hetti gesungen hatte?
Charlie las den Anfang des ersten Stücks. Die Intervalle schienen ihm ungewöhnlich, und Charlie begann, die Melodie vom Blatt zu summen. Es, g, b, d, e, b, e, f, e, e, e. Sehr gewöhnungsbedürftig. Und dann noch merkwürdiger: H, eis, e, a, f, h, eis, a, f, e, h, a … Das war nicht völlig ohne Schönheit. Aber es ergab dennoch überhaupt keinen Sinn.
Charlie blätterte weiter. Es war überall dasselbe, und er war sich nicht mehr sicher, dass Altheim ihm überhaupt eine Nachricht hatte zukommen lassen wollen. Er schloss das Album, legte es neben die Pritsche und versuchte zu schlafen. Er musste akzeptieren, dass es für ihn hier nichts zu tun gab als zu warten, es hatte keinen Sinn, sich verrückt zu machen.
Trotzdem war es merkwürdig. Warum schickte Altheim ihm solch schräge Noten? Allein die Namen der Stücke waren seltsam.
Kein Ort. Die Sängerhochzeit. Geheimnisvolle Waise. Bald.
Wieso schrieb Altheim die Weise mit ai? War es einfach ein Fehler, oder … plötzlich saß Charlie kerzengerade auf seiner Pritsche. Sängerhochzeit?!
Noch einmal schlug er das Album auf. Das erste Stück,
Kein Ort
.
Da war die Melodie. Über der Melodie standen Akkordbezeichnungen. Nur, solche Akkorde gab es überhaupt gar nicht. Charlie wünschte, er hätte einen Bleistift gehabt, um eine Vermutung zu überprüfen. Andererseits durfte er natürlich nichts aufschreiben, was irgendwie Verdacht erregen konnte. Er würde es im Kopf versuchen müssen.
Es, g, das war Melodie. Die Akkordbezeichnung darüber lautete «I». Dann kam ein b mit der Akkordbezeichnung «T».
«Es gibt!», sagte Charlie laut.
Seine Hände zitterten vor Aufregung, Altheim hatte gar keine Musik geschrieben, er hatte Sprache verschlüsselt.
Akkorde «I» und «N», dann ein d, ein e, und wieder «N» … Nachdem Charlie das Prinzip erst einmal erkannt hatte, war es fast so einfach, Altheims Nachricht zu entziffern, wie eine Zeitung zu lesen.
Es gibt in den Briefen leider keine Hinweise auf Hettis Aufenthalt.
Das war nicht gut, aber das nächste Stück hatte noch Schlimmeres zu vermelden.
Sängerhochzeit – Felix Regenmacher wird um Hettis Hand anhalten. Ada Keller wird erpresst, der Hochzeit zuzustimmen. Er droht mit Unterhaltsentzug + Skandal.
Am rätselhaftesten war die dritte Nachricht:
Geheimnisvolle Waise – Frau Kellers Schwester deutet Geheimnis um Hettis Vater an.
Und zuletzt:
Bald Freiheit.
Charlie blätterte das Album wieder und wieder durch, doch das war alles, mehr fand er nicht.
Bald Freiheit. Er hoffte, dass Altheim ihn damit meinte, denn die Vorstellung, dass Hetti irgendwo dort draußen war, gezwungen, einen anderen Mann zu heiraten … Charlie hätte keine Beweise gehabt, und Altheim hatte auch nichts davon geschrieben, aber er wusste, dass dieser Regenmacher der Mann mit dem Opernglas war. Es konnte überhaupt nicht anders sein. Die Frage, ob er nach England zurückgeschickt wurde oder nicht, verblasste hinter einer anderen Frage, die so viel drängender wurde: Wie kam er hier heraus? Charlie rollte sich wieder in seine Decke und drehte
Weitere Kostenlose Bücher