Kaltes Herz
Heinrich wusste, dass sie von Ida sprach – und nicht etwa von Henriette.
«Wann?», fragte Regenmacher.
«Vorgestern», sagte Johanne.
«Habt ihr sie denn nicht suchen lassen?» Regenmacher klang alarmiert.
«Ich dachte, sie sei längst wieder in Berlin bei dir, Ada. Ich wollte dir schreiben, wenn …», sagte Johanne.
«Nein, sie ist nicht in Berlin.» Frau Keller klang hysterisch. «Herrgott noch mal, Johanne! Willst du denn gleich zwei Kinder auf einen Schlag verlieren?»
Johannes Ausdruck wechselte von Zerknirschung zu Zorn. «In meinem Haus wird nicht geflucht!»
Ada Keller bekam kaum Luft.
«Tu doch nicht so fromm … so scheinheilig. Wenn ich sie dir nicht großgezogen hätte, was hättest du denn dann mit ihr gemacht? Sie verschwinden lassen, damit niemand von ihr erfährt? Mit Gottes Hilfe und nach seinem Willen?»
Heinrichs Verstand schwamm in Morphium, und es dauerte, bis die Bedeutung von Ada Kellers Worten zu dem wachen Kern in ihm durchzudringen vermochte.
Wenn ich sie dir nicht großgezogen hätte … ich … sie … dir …
Regenmacher hatte also recht gehabt. Es hatte nicht das Geringste mit seiner Maschine zu tun, die Zeit war nicht aus den Fugen. Aber die Wahrheit, jetzt da sie bestätigt war, erschien ihm noch viel ungeheuerlicher als die Möglichkeit zeitlicher Verwerfungen. Johanne hatte ihn wirklich betrogen. Wenn Heinrich doch nur hätte lachen können.
«Du konntest und wolltest sie nicht haben, Johanne, das habe ich damals verstanden, und das verstehe ich auch heute. Aber mir ist sie ein Kind geworden. Sie ist mein Kind. Und jetzt sagst du mir, du hast sie verloren. Vor zwei Tagen schon. Und niemand – ich frage dich –, niemand hat nach ihr gesucht?»
«Ich habe dich nicht darum gebeten, sie herzubringen.»
«Nein, das war ich», sagte Regenmacher. Seine Stimme machte deutlich, dass er keine weiteren Diskussionen dulden würde. «Wir werden sofort einen Suchtrupp zusammenstellen. Johanne, und du erzählst mir alles, was du weißt. Jetzt.»
Ada Keller lachte. «Ich fürchte aber, das wird sie nicht», sagte sie, Bitterkeit in der Stimme. «Fragen Sie sie doch mal nach dem Vater des Kindes.»
«Johanne?»
Regenmacher fragte nicht, er befahl.
«Sie können Sie nicht heiraten, Professor Regenmacher», sagte Ada Keller.
Regenmacher beachtete sie nicht, sein Blick war auf Johanne gerichtet.
«Warum nicht?»
Johanne schwieg, unfähig, sich zu einer Antwort durchzuringen.
Es war erneut Ada Keller, die antwortete.
«Weil sie Ihre Tochter ist.»
Regenmacher stutzte. Dann löste sich seine Anspannung. Er lachte.
«Unsinn. Werte Frau Keller, ich bitte Sie. Johanne, Heinrich, wir alle sind erwachsene Menschen. Wir wissen, was es zu einer Vaterschaft braucht. Und ich kann versichern, dass diese Umstände mit Sicherheit niemals …» Regenmacher stutzte erneut.
Johanne stand stocksteif da, das Gesicht ausdruckslos.
«Johanne? Was hast du deiner Schwester denn erzählt?»
«Ich habe ihr gar nichts erzählt.»
«Aber ich müsste es doch wissen, wenn wir miteinander …»
Heinrich konnte beinahe zusehen, wie die Gedanken in Regenmachers Kopf einander jagten, einer den anderen, und immer im Kreis. Endlich schien einer von ihnen einen Ausweg gefunden zu haben.
«Succubus», murmelte Regenmacher. Dann laut: «Johanne, was hast du getan?»
«Succubus!?» Jetzt lachte Johanne, doch es klang schrill. «Was geschehen ist, geschah ganz sicher nicht auf mein Betreiben. Du konntest es nicht ertragen, dass ich mich für Heinrich entschieden habe. In der Nacht bevor du und Heinrich nach Paris an die École gegangen seid. Er war längst im Bett, aber du hast weitergetrunken. Und dann …», das Nächste kam leise, «hast du dir einfach genommen, worauf du ein Recht zu haben meintest.»
Johanne sah Heinrich zum ersten Mal seit Idas Tod in die Augen.
«Am nächsten Tag habt ihr euch verabschiedet, du und Felix. Felix hat sich an nichts mehr erinnert. Oder wollte sich nicht erinnern. Und ich habe entschieden, es dabei zu belassen. Die Konsequenzen allein zu tragen. Bis ihr zurückkamt und Heinrich und ich endlich geheiratet haben, verging mehr als ein Jahr. All die Jahre ist nie auch nur ein einziges Wort darüber verloren worden.» Johanne stieß einen Laut aus, irgendwo zwischen Schnauben und Lachen. «Ich hatte genügend Zeit, darüber hinwegzukommen.»
Johanne schien erschöpft nach diesem Geständnis. Schweißperlen standen ihr auf der Stirn.
Heinrich sah, wie sich eine
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