Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kaltes Herz

Kaltes Herz

Titel: Kaltes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Freise
Vom Netzwerk:
erholen konnten.

[zur Inhaltsübersicht]
    25
    H einrich fühlte die Nadel an der Innenseite der Vene und wartete auf die Erleichterung, die einsetzen musste. Gleich. Jetzt. Er lehnte sich zurück, wartete. Durch die feinen Muster des Spitzenstoffes, den Johanne ihm über das Gesicht gelegt hatte, sah ihre gute Stube wie ein traumverlorenes Märchenreich aus, alles wirkte verklärt, verschönt. Doch das Biedermeiersofa, auf dem er lag, war zu kurz, die Rückenlehne zu steil, die Armlehnen zu schmal und hart. Um den polierten Tisch standen sechs Polsterstühle, ebenso vornehm und aufrecht mit ihren lindgrün schimmernden Bezügen, und an der Wand gegenüber hing eine Pendeluhr, deren beruhigendes Ticken er so gerne gehört hätte. Nur, die Maschine im Keller ließ ihn nicht, Heinrich hatte nicht gewusst, wie laut sie im ganzen Haus zu hören war. Vielleicht war das auch erst so, seitdem die Walze sich vierzigmal in der Minute über ein Hindernis hinwegschob, das zwar mit jedem Mal geringer wurde, aber die Mechanik dennoch an ihre Grenzen bringen musste. Wieder spürte Heinrich ein Klagen aus seiner Brust aufsteigen, das er nicht unterdrücken konnte. Johanne zog die Injektionsnadel aus seinem Arm und wandte sich ab. Heinrich riss sich zusammen, presste sein Taschentuch auf die Einstichstelle und beugte den Arm.
    Johanne hatte kaum ein Wort gesagt, seit sie vorgestern aus dem Keller heraufgekommen war, durch den Schleier über seinem Gesicht sah sie wie ein Gespenst aus, weiß, fadenscheinig. Klaglos und aufrecht ging sie ihren Verrichtungen nach, erschien, verschwand wieder, stumm und mit starrem Blick, der nirgends Halt zu finden schien. Sie hatte ihm seitdem nicht einmal in die Augen geblickt. Vielleicht war sie wirklich ein Gespenst, vielleicht war sie in Wirklichkeit noch dort unten bei Ida. Vielleicht sollte auch er hinuntergehen. Sich neben sie legen, schlafen.
    «Ich bin gleich zurück», sagte Johanne tonlos. «Schlaf ein bisschen.»
    Ja, das wollte er. Heinrich schloss gehorsam die Augen, hörte, wie sie die Tür hinter sich schloss. War das eine Kutsche im Hof? Er konnte sich täuschen, und es interessierte ihn auch nur für die Andeutung eines Moments. Lieber ließ er sich vom Morphium davontragen, fort von den Schmerzen, nicht nur den körperlichen, auch von denen, für die es kein Gegenmittel gab. Er roch den Docht der Lampe, die Johanne angezündet hatte, damit er lesen konnte, und die Lavendelsäckchen, die im Schrank bei den guten Tischtüchern und Servietten lagen, um die Motten fernzuhalten. Er roch sogar Pfeifentabak. Das Seltsame war, dass er gar keine Nase mehr besaß. Es waren Gerüche aus Zeiten, in denen er in dieser Stube mit Regenmacher gesessen und im Lampenschein Pläne geschmiedet hatte. Sie hatten geraucht, geredet, gegessen. Er hatte gerochen.
    Die gute Stube war das einzige Zimmer im Erdgeschoss, das Heinrich nicht verwüstet hatte. Die Tür war abgeschlossen gewesen, der Raum wurde nur zu festlichen Anlässen benutzt. Im Moment war er allerdings das einzige bewohnbare Zimmer. Heinrich zog es vor, hier unten auf dem unbequemen Sofa zu schlafen, statt das Zimmer im oberen Stockwerk zu beziehen, in dem Ida gewohnt hatte, und er stand nur auf, wenn er an dem winselnden Hund im Hof vorbei den Abtritt aufsuchen musste.
    Gestern hatte Johanne in diesem Raum in Heinrichs Beisein die Fragen der Beisetzung mit dem Pfarrer besprochen. Sie hatte ihm erklären müssen, weshalb Ida nicht beigesetzt werden konnte. Sie hatte ihn hinabgeführt in den Keller, in den süßen, dicken Gestank nach Blut und Fleisch, der dort unten herrschte, seit die Maschine sich einen Menschenkörper genommen hatte. Sie hatte ihm gezeigt, wie ihr Kind ganz gleichmäßig über das Walzbett verteilt wurde, hatte ihm erklärt, dass es nicht möglich war, die Maschine anzuhalten, um die Masse abzutragen und wie einen menschlichen Urteig in den Sarg zu werfen.
    Als der Pfarrer aus dem Keller wieder heraufgekommen war, hatte er eine Flasche Wein geleert, bevor er sich in der Lage fühlte, über Alternativen zu einer Beisetzung nachzudenken, ohne zu einer Lösung zu gelangen. Schließlich hatte der Pfarrer Heinrich ins Gewissen geredet.
    «Du musst beichten, alter Freund, um deiner Seele willen. Und wenn du dein Gewissen erleichtert hast, musst du das Ding dort unten zerstören», hatte er mit schwankender Stimme gesagt und mit dem Finger gedroht. «Das ist nicht die Arbeit eines großen Mannes, das ist ein Werk unseres großen

Weitere Kostenlose Bücher