Kaltes Herz
Willem nickten.
Um zwei Uhr morgens war Charlie zum ersten Mal dankbar für Altheims überstarken Tee. Er stand mit einem Handwagen und einer Sackkarre in pechschwarzer Dunkelheit vor der metallenen Säule, die vielleicht bis zum Rand, vielleicht auch nur mit einer dürftigen Schicht am Boden mit Briefen gefüllt sein mochte.
Der Kasten war mit zwei Eisenstreben in der Hauswand verankert, schien ansonsten aber einfach auf dem Straßenpflaster zu stehen. Also kein Stemmen und Ausbuddeln, sondern bloß Sägen. Das war gut.
Charlie blickte sich um. Unten an der Oranienstraße stand Willem Wache, oben an der Auguststraße hatte sich Altheim postiert. Er konnte nicht pfeifen wie ein Gassenjunge, darum hatten sie ausgemacht, dass er einen zotigen Gassenhauer singen würde, irgendetwas Betrunkenes, sollte sich jemand nähern. Seine trainierte Stimme würde weit genug tragen, und beinahe wünschte Charlie sich, in den Genuss einer solchen Vorstellung zu kommen. Er nahm die Säge vom Wagen und setzte sie an.
Das Geräusch kam ihm vor wie das Kreischen einer bremsenden Eisenbahn auf den Gleisen. Wenn davon nicht die ganze Nachbarschaft erwachte, dann mussten sie alle taub sein in Berlin. Charlie hielt inne, lauschte. Nichts.
Er gab sich einen Ruck. Je schneller er arbeitete, desto eher war er fertig, und desto geringer war die Gefahr, entdeckt zu werden. Charlie sägte mit voller Kraft, und doch würde es Minuten dauern, bis er durch war, und es dauerte weniger als eine Minute, bis ihm der Schweiß über die Stirn und brennend in die Augen lief. Würde Willem pfeifen oder Altheim singen, Charlie würde bei diesem Lärm nichts davon hören können. Er musste blind und taub da durch, es gab kein Zurück. Als die erste Strebe mit einem lauten Klingen nachgab, hielt Charlie inne, sah sich um. Willem und Altheim waren näher gerückt, in einem der Fenster gegenüber war ein Licht angegangen. Charlie machte weiter, schneller. Als auch die zweite Strebe nachgab, fühlte er sich in der plötzlichen Stille fast taub. Das beleuchtete Fenster hatte sich geöffnet, Charlie sah die Silhouette eines Mannes im Unterhemd, der sich, die Hände aufs Fensterbrett gestützt, nach draußen beugte und die Dunkelheit zu durchdringen suchte. Charlie wartete, dass er ihn anrufen würde, doch nichts geschah, und nach einer Weile schloss der Mann das Fenster, zog die Vorhänge zu, löschte das Licht.
Charlie holte die Sackkarre, nahm seine ganze Kraft zusammen, um den eisernen Kasten ein wenig nach hinten zu kippen, bis er an die Hauswand stieß. Dann schob er die Sackkarre darunter. Der Haken des Plans wurde ihm bewusst, als er mit der Sackkarre vor dem Handwagen stand. Er konnte den zentnerschweren Postbriefkasten unmöglich hoch genug heben, um ihn auf den Wagen zu bekommen. Charlie überlegte nicht lange, warf die mitgebrachten Kohlensäcke über den Kasten, ließ den Handwagen stehen und marschierte mit der Sackkarre Richtung Auguststraße. Hinter sich hörte er Schritte näher kommen. Ruhig, sagte Charlie zu sich selbst. Das ist nur Willem, der von der Oranienstraße heraufkommt, um zu helfen.
Der Junge schloss zu Charlie auf und brachte Handwagen und Werkzeug mit. Sobald sie auf Altheim trafen, übernahm dieser die Vorhut und Willem die Nachhut, und so gelang es ihnen, still und ungesehen durch die Straßen zu laufen, erste Passanten abwartend, die sich schon um drei Uhr morgens auf den Weg in Backstuben, Fabriken und, ja, Postämter machten.
Als sie das Haus in der Krausnickstraße erreichten, wo der Professor wohnte, brannten Charlies Arme, und er hatte das Gefühl, den Kasten keinen Meter weiter mehr schieben zu können. Die Aussicht, ihn die Treppen hinaufzuwuchten, nur mit der Hilfe eines Knaben und eines Greises, erschien ihm unmöglich.
«Wie lange haben wir noch?», fragte er Altheim atemlos. «Bis der Kohlenhändler kommt, meine ich.»
«Lange genug. Wir bringen ihn in den Hof und machen ihn dort auf.»
«Dann wird man hier im Haus nach dem Täter suchen.»
Altheims Lächeln verjüngte sein Gesicht um Jahrzehnte.
«Ich sagte Ihnen doch, ich bin reif für ein Abenteuer. Außerdem werde ich zu Frau Liese ziehen, das ist beschlossene Sache.» Charlie meinte, Professor Altheim erröten zu sehen, aber er war sich in der Dunkelheit nicht sicher. Ob die Andeutung gewisser Dienste in Felix Regenmachers Brief ihn zu diesem Entschluss bewogen hatte? Charlie verwarf den Gedanken. Professor Altheim war bemerkenswert jung für sein
Weitere Kostenlose Bücher