Kaltes Herz
war sie längst in Berlin, vielleicht war sie dort eingetroffen, während Ada Keller und er selbst sich auf den Weg nach Gramstett gemacht hatten. Vielleicht stand sie in Berlin vor verschlossenen Türen. Aber dann könnte sie zum
Wintergarten
gehen, dort würde man sie nicht im Stich lassen.
Und wenn nicht? Was, wenn ihr etwas zugestoßen war?
Charlie verbot sich jeden Gedanken in diese Richtung. Hetti lebte, er fühlte es, denn wenn er die Augen schloss und sich an jenen Bergsee versetzte, der nur ihnen gehörte, dann hörte er noch immer ihren Gesang. Willem und Altheim waren die Einzigen, die gemeinsam gingen, sie wurden an einem Hof westlich der Pflog’schen Wäscherei hinausgelassen.
Schließlich war nur noch Charlie übrig, und er stieg lieber zu dem Fahrer auf die Bank, als allein hinten im Wagen zu bleiben. Der streckte ihm die Hand entgegen.
«Wir hatten noch keine Gelegenheit, uns bekannt zu machen», sagte er. «Heinz Graf.»
Der Blick aus blassblauen Augen hatte etwas Berechnendes, und Charlie stellte fest, dass er Heinz Graf auf Anhieb nicht mochte.
«Charles Jackson», sagte er.
«Ach, dann sind Sie Charlie?» Heinz Graf blickte ihn neugierig an.
«Hat Hetti von mir gesprochen?»
Graf schien seine Frage zu bereuen. Er zuckte die Achseln und sagte gleichgültig: «Sie hat Sie möglicherweise mal erwähnt.»
«Kennen Sie sie gut?»
«Nein! Gar nicht. Ich habe sie nur ab und zu auf dem Pflog-Hof gesehen.»
Charlie kam es merkwürdig vor, dass die Erwähnung seines Namens eine solch starke Reaktion in Heinz Graf hervorgerufen hatte, wenn er Hetti gar nicht richtig kennen wollte. Er hatte den Eindruck, dass Heinz Graf etwas zu verbergen versuchte, und er nahm sich vor, es herauszufinden.
Die Straße führte auf einen Ortseingang zu, in einer Minute würden sie ihn erreicht haben.
«Wo werden Sie mich absetzen?»
«Eigentlich haben wir alles abgeklappert, was es in der Umgebung gibt. Wir fahren nach Gramstett und fragen dort nach dem Mädel rum. Die Stadt ist groß genug für zwei. Außerdem will ich auch die Polizei verständigen.»
Charlie nickte. Das erschien in jedem Fall sinnvoller, als ziellos durch eine fremde Landschaft zu streifen und darauf zu hoffen, zufällig auf eine Spur zu stoßen. Außerdem würde Hetti sicherlich eine größere Ortschaft suchen, wenn sie zurück nach Berlin wollte. Aber war das überhaupt ihr Ziel gewesen? Wie konnte er das mit Sicherheit wissen?
Heinz Graf stellte den Wagen vor dem Bahnhof ab, sie wünschten einander viel Glück, und dann verschwand Graf in einer Bäckerei.
Charlie lief mit Hund an der Kette unentschlossen ein Stückchen in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Die Hauptstraße war schmal, die Häuser nur zweigeschossig, und an den Fassaden fehlte Farbe, sie wirkten ebenso abweisend wie die Gesichter, die Charlie entgegenkamen. Am besten fing er mit der einfachsten Möglichkeit an. Er zog das Taschentuch hervor, das Maria ihm gegeben hatte, und ließ Hund daran schnuppern.
«Such», sagte er. «Such Hetti!»
Hund stellte die Ohren auf und blickte Charlie aufmerksam an.
«Hetti», wiederholte Charlie. «Wo ist Hetti?»
Nachdem er noch einmal an dem Taschentuch geschnuppert hatte, hielt Hund die Nase in den Wind und setzte sich tatsächlich in Bewegung.
Eine Minute später standen sie erneut vor der Laderaumtür von Heinz Grafs Wagen, und Hund winselte und kratzte daran, setzte sich dann aufs Hinterteil und sah Charlie erwartungsvoll an. Charlie seufzte. Er konnte verstehen, dass das Tier wieder nach Hause wollte. Nur würden sie Hetti dort nicht finden.
Heinz Graf trat aus dem Bäckereiladen heraus, eine Papiertüte in der Hand. Charlie zog sich weiter hinter den Wagen zurück. Ohne ihn zu bemerken, setzte Heinz Graf sich wieder auf seinen Fahrerthron, zwei Mädchen kamen vorbei und warfen ihm bewundernde Blicke zu. Und dann geschah erst einmal nichts weiter. Charlie hörte lediglich das Rascheln der Papiertüte. Heinz Graf aß. Besonders eilig schien er es nicht zu haben, Hetti zu suchen oder zur Polizei zu gehen. Als er fertig war, warf er die zusammengeknüllte Tüte in den Rinnstein, dann stieg er wieder ab und ging nach vorne, um den Wagen anzukurbeln. Hund stand neben Charlie, blickte ihn immer noch aufmerksam und schwanzwedelnd an.
«Ja, fein gemacht», flüsterte Charlie.
Er dachte nicht darüber nach, folgte einfach dem Gefühl, öffnete die Tür des Laderaums und stieg ein. Unverzüglich begann Hund schnaubend und
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