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Kaltes Herz

Kaltes Herz

Titel: Kaltes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Freise
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Hund am Halsband zurück, bis Heinz Graf tiefer im Wald verschwunden war. Ein kurzes «Shhh» hatte genügt, das Tier hatte begriffen, dass sie sich auf der Jagd befanden und sich still verhalten mussten. Charlie ließ dem Fahrer gut zehn Minuten Vorsprung, bevor er Hund frei laufen ließ.
    Trotz seines Alters schoss das Tier davon wie ein Pfeil. Dort, wo die Wurzeln eines umgestürzten Baumes ein großes Loch im Boden hinterlassen hatten, machte er Halt, nahm eine Fährte auf und verfiel in einen leichten Trab.
    Bald stießen sie auf einen schmalen Pfad, der über eine dicht bewachsene Hügelkuppe und schließlich aus dem Wald hinausführte.
    Vor Charlie lag eine Wiese, die in sanftem Schwung abfiel und in eine Allee mündete. Dahinter begann eine Ebene, auf der sich Weiden und Felder in verschiedenen Farbtönen aneinanderreihten wie Flicken, mit Nähten aus Gräben und Buschwerk, verziert mit Kühen, Schafen und einzelnen Bäumen, die ihr Geäst unter dem blassblauen Himmel aufspannten.
    Charlie musste Hund erneut am Halsband zurückhalten, als er den Fahrer jenseits der Allee über eine Schafweide marschieren sah. Am anderen Ende der Weide war ein Unterstand für die Tiere.
    «Warte. Sonst sieht er uns noch», sagte Charlie.

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    28
    H enriette wusste nichts, als dass es finster war, dass es schmerzte und dass sie atmete. Träge, wie in milchiger Einweichlauge treibende Wäschestücke, tauchten weitere Eindrücke auf. Das Brennen zwischen ihren Schenkeln, die Schmerzen in der gequetschten Kehle. Sie bewegte sich nicht, versuchte zu begreifen, wo sie sich befand und was sie fühlte. Unter ihr war es weich und nass. Das war keine Wäsche. Es roch nach Regen, nach Erde und faulendem Laub. Das Laub lag unter ihr, und es lag auch über ihr, über Armen und Beinen, über ihrem Kopf, und sie hatte bittere Erdkrümel im Mund. Ihre Zähne schlugen aufeinander, Arme und Beine zitterten unkontrollierbar, als ein Schüttelkrampf sie überkam. Dann lag sie wieder still. Stellte fest, dass sie die Augen öffnen konnte.
    Über ihr zeichneten sich die gefiederten Blätter von Farnkraut gegen das Mondlicht ab. Sie fühlte eine Berührung in der Handfläche, zitternd, warm. Sie wollte schreien, doch sie konnte nicht. Das Etwas war weich, und es drehte sich in ihrer Handfläche. Es hatte Füße, kleine, trippelnde. Henriettes Panik ebbte ab. Das war nicht er, der sie berührte. Das war etwas anderes. Alles war gut.
    Henriette schloss die Hand, beugte den Arm. Stützte sich mit der anderen Hand ab, Erde rutschte unter ihr weg, der Boden unter ihr war abfallend, um sie herum waren steile Wände aus Erde. Das weiche, kleine Etwas wand sich erst, dann hielt es still. Henriette hob die Hand dicht vor ihr Gesicht, öffnete sie vorsichtig.
    Es war eine Maus, ein winziges Tier mit einer spitzen Nase und langen Barthaaren, das sie aus schwarzen Augenpunkten ansah. Sie musste Henriettes Hand für einen guten, warmen Schlafplatz gehalten haben. Vielleicht hatte sie sie für tot gehalten.
    Henriette atmete schmerzhaft ein. War sie tot gewesen? War dort etwas gewesen? Ein Danach? Henriette forschte in ihrer Erinnerung, aber da war nichts, nicht einmal Finsternis. Sie erinnerte sich einfach nicht. Vorsichtig setzte sie die Maus auf den Boden und blickte sich um. Saß sie in ihrem eigenen Grab, in einer Grube, die
er
für sie ausgehoben hatte? Aber in einem Grab wuchs kein Farn.
    Als Henriette aufstand, wurde das Brennen zwischen ihren Beinen stärker, und als sie aus der Grube zu klettern versuchte, rutschte sie ab und stieß mit dem Knie gegen etwas Hartes. Als sie danach tastete, erkannte sie die geschwungene Form sofort: ihr Violinkoffer!
    Dass sie ihn noch hatte, ließ in Henriette eine Welle der Hoffnung aufsteigen. Aus irgendeinem Grund wusste sie: Solange sie Charlies Violine hatte, würde alles gut werden, sie würde ihn wiedersehen, und sie würde ihm die Violine geben. Nur darum hatte sie das Instrument in der Kammer unter der Treppe gefunden, damit sie es ihm geben konnte. Henriette packte den Koffer am Griff, prüfte die Verschlüsse und nahm einen neuen Anlauf. Diesmal schaffte sie es.
    Der Mond leuchtete zwischen den Bäumen, beinahe voll. Henriette stand da, fühlte die Angst. Wohin sollte sie sich wenden, wohin musste sie gehen? Oder war es ganz egal, in welche Richtung sie ging? Irgendwann würde sie auf eine Straße, ein Haus, einen Ort stoßen, allzu weit konnte es in keine Richtung sein, denn als Mutter

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