Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kaltes Herz

Kaltes Herz

Titel: Kaltes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Freise
Vom Netzwerk:
die Szene nicht gleich erfassen konnte. Doch dann erkannte er Ada Keller, die auf einem Stuhl am Fenster saß.
    Auf einem anderen Stuhl saß Regenmacher, noch weißer im Gesicht als Frau Keller, die Hand auf die Seite gepresst, das Hemd blutig. Der Griff eines Messers ragte ihm unter der Achsel aus der Brust. Ein junges Mädchen mit rotgelocktem Haar stützte ihn, und eine Frau in mittleren Jahren schnitt ihm mit einer großen Schere Jackett und Hemd vom Leib. Das musste Johanne Pflog sein.
    Sie wandte sich ihnen zu, neun Männern und einem Jungen, die herumstanden und betroffen von einem Bein aufs andere traten.
    «Heinz», sagte Frau Pflog, als ihre suchenden Blicke den Mann gefunden hatten, der sie hergefahren hatte. «Bitte, fahren Sie sofort zurück in die Stadt und holen Sie Dr. Pfeiffer. Sagen Sie ihm, er muss operieren. Beeilen Sie sich.»
    Der Mann nickte und machte auf dem Absatz kehrt.
    «Herr Pfarrer?»
    «Ich bringe die Männer, um das Teufelswerk zu zerstören», sagte der Pfarrer. «Wir steigen gleich hinab.»
    «Warten Sie», presste Regenmacher hervor. «Die Männer haben jetzt Wichtigeres zu tun.»
    Alles schwieg, bis er wieder zu Atem gekommen war.
    «Sie müssen ein Mädchen suchen. Henriette Keller. Sie ist vor zwei Tagen verschwunden. Ich wollte sie … heiraten. Wir müssen …» Regenmacher war drauf und dran aufzustehen, doch Johanne hielt ihn zurück.
    «Du musst jetzt gar nichts als auf den Arzt warten, Felix. Es ist ein Wunder, dass du überhaupt lebst.»
    Regenmacher lachte und verzerrte schmerzvoll das Gesicht.
    «Kein Wunder», sagte er. «Das Herz … ist bei mir auf der rechten Seite. Eine anatomische … Kuriosität. Eigentlich gehöre ich … ins Panoptikum.» Er hustete krampfhaft. «Aber ich fürchte, die Lunge …» Die Schmerzen schienen ihm fast die Besinnung zu rauben, sein Atem kam stoßweise.
    Plötzlich rauschte Charlie das Blut in den Ohren. Er befand sich wieder auf dem Rummelplatz, Hetti war bei ihm. Das Zelt, der weiße Neger, die Riesenkinder. Jener gestohlene Moment, jener Kuss und seine Hand auf Hettis Busen, ihr Herzschlag unter seiner Hand, zu schnell, und er hatte ihn in der linken Handfläche gespürt, nicht in der rechten. Jetzt wusste er, was ihn damals so irritiert hatte.
    «Sie können sie doch nicht heiraten», hörte Charlie sich sagen.
    Er meinte die Andeutung jenes ironischen Lächelns in Regenmachers Gesicht zu sehen, das er schon aus Berlin kannte.
    «Sie ist Ihre Tochter. Ihr Herz sitzt ebenfalls auf der rechten Seite.»
    «Das ist ja wirklich mal was Neues», sagte Regenmacher mit einem sarkastischen Unterton.
    «Und jetzt will ich sofort wissen, was mit Hetti geschehen ist», fuhr Charlie fort.
    «Johanne», sagte Regenmacher. «Bitte setze die Männer in Kenntnis.»
     
    Eine Viertelstunde später standen sie im Hof und warteten darauf, dass Johanne Pflog und ihre Töchter sie mit Lampen, Verbandszeug, Wolldecken, Tee, Honig und Brot versorgten. Der Fahrer kehrte mit dem Arzt zurück, der sogleich zu Regenmacher ging.
    Der Fahrer selbst stellte sich und seinen Wagen für die Suchaktion zur Verfügung. Sobald Decken und Proviant in leeren Wäschebeuteln verstaut waren, stiegen sie alle bis auf den Pfarrer erneut hinten in den Wagen. Als Charlies Blick auf den alten Hund an seiner Kette fiel, beschloss er, ihn ebenfalls mitzunehmen.
    «Habt ihr hier etwas, was Hetti gehört?», fragte er ein Mädchen, das vielleicht zehn oder elf Jahre alt war. Sie zog ein benutztes Taschentuch aus der Schürze.
    «Das hab ich von ihr gekriegt.»
    «Danke, das wird gehen.»
    Charlie steckte das Taschentuch ein und hoffte, dass noch genug von Hettis Duft darin hing.
    «Wie heißt der Hund?»
    «Hund», sagte das Mädchen. «Und ich heiße Maria», sagte sie und streckte ihm mit einem Knicks die Hand hin.
    «Gut, vielen Dank, Maria.»
    «Sie bringen Hetti zurück, oder?», sagte sie.
    Charlie nickte. «Ich verspreche es.»
    Dann stieg er zusammen mit dem Hund als Letzter in den Wagen.
     
    Der Fahrer setzte an jedem Dörfchen, Flecken oder Gehöft rund um den Pflog-Hof einen Mann mit Lampe, Decke und Proviant ab. Sie wollten erst in Erfahrung bringen, ob jemand Hetti gesehen hatte, und weitere Helfer rekrutieren, und so warteten sie an jeder Station gespannt, ob das Mädchen vielleicht schon gefunden worden war, bevor sie weiterfuhren. Doch bisher war Hetti nirgends aufgetaucht.
    Charlies Unruhe wuchs mit jeder Station, sein Herz wurde schwerer. Zwei Tage. Vielleicht

Weitere Kostenlose Bücher