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Kaltes Herz

Kaltes Herz

Titel: Kaltes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Freise
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sie nach Gramstett gebracht und sie stundenlang aus dem Fenster der Kutsche gestarrt hatte, war alle zehn Minuten ein Gehöft oder ein kleines Dorf in Sichtweite vorbeigezogen. Die Gegend war dicht besiedelt. Henriette schloss die Augen, drehte sich langsam im Kreis, bis sie das bestimmte Gefühl verspürte: Da lang, dort werde ich Charlie finden.
    Sie öffnete die Augen, blickte einen Hang hinauf, der dicht mit nachtschwarzen Bäumen bewachsen war, ging los, das Brennen ignorierend, einfach einen Fuß nach dem anderen auf den unebenen Waldboden setzend. Nach einer Weile stieß sie auf einen schmalen Pfad, dem sie folgen konnte, das war gut, ein Pfad führte immer dorthin, wo Menschen waren.
    Nach einer Zeit, die ihr unendlich und zugleich unbedeutend erschien, erreichte sie den Rand des Waldes. Sie wusste nicht, ob sie Stunden oder Minuten gelaufen war, weil ihr Geist nicht richtig zu Hause war, sich immer noch an dem Ort zu befinden schien, an den sie sich nicht erinnerte, vielleicht war sie verrückt geworden, wundern würde sie das nicht. Ihr Blick fiel auf eine Allee am Fuß eines langgestreckten Hanges, und dahinter waren Wiesen, die im Mondlicht silbergrau schimmerten. Bis zum Horizont nichts als Felder und Weiden. Henriette atmete, ihre Brust öffnete sich, ihre Kehle wurde weicher, hier war Luft, hier war Raum, beinahe hätte sie gelacht vor Erleichterung, sie begann zu rennen, zu stolpern, auf die Allee zu. Wenn sie ihr folgte, dann musste sie Menschen finden, bald, noch in dieser Nacht. Als sie die Straße erreichte, rutschte sie mit den Füßen voran in einen Graben, der neben der Straße verlief, das Wasser war schmerzhaft kalt und reichte ihr bis zur Hüfte. Aber die Kälte betäubte das Brennen zwischen ihren Schenkeln, und sie war versucht, sich einfach hinzulegen und auch die anderen Schmerzen, die im Herzen und im Kopf, mit Kälte zu betäuben. Nur, dann würde sie Charlie niemals die Violine geben können. Und solange sie die Violine hatte … Erst jetzt merkte sie, das ihre Hand, die den Griff des Koffers gehalten hatte, zur Faust geballt, aber leer war. Henriette begann im Wassergraben herumzutasten. Wenn der Koffer ins Wasser gefallen war, würde Charlie für die Violine keine Verwendung mehr haben. Aber der Koffer war nicht ins Wasser gefallen. Sie musste ihn im Reflex von sich geworfen haben, denn als sie sich umblickte, entdeckte sie ihn im Gras am Straßenrand.
    Henriette hielt sich an den Zweigen eines Holunderstrauchs fest, zog sich hinauf, sammelte den Koffer auf, lief weiter, die Allee entlang, mit zentnerschweren Röcken, die ihr an den Beinen klebten, still und entschlossen und mit gegen die Kälte verschränkten Armen. Sie kam nur langsam voran, aber sie war nicht bereit aufzugeben. Und falls sie noch bei Verstand war, dann stimmte es, dass der Himmel vor ihr schon heller war als der hinter ihr. Der Morgen konnte nicht mehr lange auf sich warten lassen. Sie musste nur durchhalten, einen Schritt nach dem anderen tun. Während sie gegen den Drang ankämpfte, sich einfach hinzulegen und zu schlafen, flüsterte Charlie ihr ins Ohr:
Hetti, du musst singen!
    Das war ein Befehl, und egal wie erschöpft sie war, es hatte keinen Zweck, sich zu widersetzen. Henriette öffnete den Mund und begann zu singen, mit aller Kraft, die ihr geblieben war. Sie sang das Lied, das die Nacht für sie schrieb, es kam zu ihr, während ihre Füße den Rhythmus in die Straße stampften, immer lauter. Und dann sah sie in der Ferne ein Licht. Es kam näher. Sie hatte gar nicht gewusst, wie schnell sie lief, das Singen verlieh ihr anscheinend Siebenmeilenstiefel, so schnell wie das Licht näher kam. Zu schnell! Henriette sah Hufe aufsteigen, hörte das Wiehern eines Pferdes, das Knarren von Zaumzeug und warf sich neben der Straße ins Gras.
    «Ho! Ruhig! Ho!»
    Sie konnte sich nicht abstützen, wegen des Geigenkoffers in ihrer Hand. Ein scharfer Schmerz schnitt in ihren Kopf, als sie rücklings aufschlug. Durch den Nebel, der sie plötzlich umgab, hörte sie eine Frage:
    «Was ist passiert?»
    Durch den Nebel glaubte Henriette die Stimme ihrer Mutter zu erkennen. Träumte sie? Wenn ja, wann würde sie aufwachen?
    «Können Sie irgendetwas sehen?»
    Jetzt klang die Stimme wie Ida. In Ordnung. Es war nur ein Traum …
    Der Kutscher nahm seine Laterne vom Haken und schwenkte sie nach links, nach rechts, und Henriette wollte sich, Traum oder nicht, dem Licht entgegenstrecken, wollte gesehen werden. Obwohl sie bei

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