Kaltes Herz
jahrelang mit einer Kindertanztruppe auf Tournee, habe nach und nach kleine Engagements gehabt. Vaudeville zuerst, später auch Theater. Von meinem ersten richtigen Geld habe ich mir eine Violine gekauft. Ich war gut. Ich bin immer noch gut.» Charlie kam ins Reden, und es erleichterte ihn. «Ich habe angefangen zu komponieren. Das Notenpapier habe ich mir mit kleinen Rollen im Theater verdient, Statisterie erst, dann auch Sprechrollen. Vor drei Jahren habe ich mich dann wieder fest in London niedergelassen. Ich hatte ein gutes Auskommen, regelmäßig Engagements, und meine ersten Kompositionen waren erfolgreicher, als ich es mir hätte träumen lassen. Ich habe ein Ballett geschrieben, eine Romanze, die wurde am
Alhambra
aufgeführt. Es war ein großer Erfolg. Claude Debussy war bei der Premiere, er ist hinterher zu mir gekommen, hat mir gratuliert …» Charlie brach ab.
«Und was dann?», fragte Hetti sanft.
«Wissen Sie, wenn man keine richtige Kindheit hatte, dann gibt es zwei Wege, das Leben zu meistern. Man kann versuchen, den Schmerz zu Kunst zu machen. Oder man kann den Schmerz an andere Menschen weitergeben, man kann zum Verbrecher werden. Es gibt viele, die keinen anderen Weg sehen.»
«Sind Sie so jemand?»
«Ich? Nein. Ich habe nichts verbrochen.»
«Dann ist es der Mann mit dem Opernglas. Kennen Sie ihn aus London?»
Charlie lachte und senkte den Kopf. Hätte er nur nie mit dieser idiotischen Geschichte angefangen. Hetti würde immer wieder versuchen, diesen Mann in seinem Leben unterzubringen.
«Wieso lassen Sie ihn nicht einfach festnehmen, wenn er etwas verbrochen hat? Wozu dieses Katz-und-Maus-Spiel, das Sie mit ihm spielen?»
Charlie schüttelte den Kopf. «Hetti, ich habe keine Ahnung, und ich weiß auch nicht, was er von Ihnen will. Aber wir müssen ernsthaft versuchen, es herauszufinden.»
Henriette blickte Charlie nicht an, als sie sprach.
«Wissen Sie, meine Mutter hat oft starke Schmerzen in den Gelenken. Und manchmal frage ich mich … in letzter Zeit …» Sie sprach nicht weiter.
«Ja?»
Hetti schob den Teller von sich.
«Haben Sie einen Verdacht?»
«Könnte es nicht sein … Sie haben mich ja selbst darauf hingewiesen, dass der Mann mit dem Opernglas asiatische Augen hat. Und ich habe gelesen, dass Chinesen oft … Laudanum verkaufen.»
Charlie konnte sich das Lachen nicht verkneifen.
«Sie meinen, er gehört zu einem Opiumring? Aber das war vor fünfzig Jahren, Hetti! Heute haben wir doch viel modernere Schmerzmittel.»
«Meine Mutter geht aber nicht zum Arzt. Und ich dachte …»
«Dass sie sich auf andere Weise zu behelfen weiß? Wie kommen Sie darauf?»
«Ich habe den Mann schon zweimal aus unserem Haus kommen sehen», sagte Hetti und sah ihn mit einem gequälten Blick an. «Charlie, ich habe viel mehr Angst um meine Mutter als um mich selbst.»
Charlie schwieg. War das des Rätsels Lösung? Wenn Frau Keller starke Schmerzmittel brauchte, dann könnte ein Opiumhändler ihr helfen, und er beobachtete Hetti, weil … sie hübsch genug war, um sie zu verkaufen? Charlie schüttelte den Kopf. Nein, das war Stoff für einen billigen Schauerroman, und jetzt begann er schon selbst, daran zu glauben.
«Was immer es ist», sagte er mit Bestimmtheit, «ich werde es herausfinden. Hetti, ich würde alles tun, um mit Ihnen zusammen zu sein.»
«Erklären Sie mir, weshalb habe ich den Eindruck, Sie sagen solche Dinge nicht zum ersten Mal zu einer Frau?»
«Sie haben recht. Aber bei Ihnen ist es anders.» Charlie holte tief Luft. «Ich weiß nicht, warum, aber zum ersten Mal in meinem Leben liebe ich.»
«Dann sagen Sie mir die Wahrheit, Charlie.»
«Wie meinen Sie das?»
«Sie sagten mir, Sie verfolgen diesen Mann seit einer Weile. Warum verfolgen Sie ihn?»
«Bitte, Hetti, fragen Sie mich das nicht. Ich kann es Ihnen nicht sagen. Ich … kann einfach nicht. Mein Beruf …»
«Ich dachte, Sie sind Komponist. Haben Sie mir nicht genau das eben erzählt?»
Charlie nickte. Wenn er ihr jetzt die Wahrheit sagte, dann musste er zugeben, bei ihrer ersten Begegnung gelogen zu haben. Er sollte es tun, es wäre richtig. Und wenn sie dann nie wieder mit ihm reden, ihm nie wieder vertrauen würde?
«Erzählen Sie mir, wie Sie vom Komponisten zum Verbrecherjäger wurden.»
Wie leicht wäre es, seine Geschichte ein winziges bisschen umzudeuten. Den Tod seines Vaters mit Hettis Geschichte vom Opiumring zu vermengen. Es wäre eine gute Geschichte. Nur wäre sie immer noch
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