Kaltes Herz
hatte?
«Dasselbe könnte ich Sie fragen», sagte der Mann. Sein Deutsch war akzentfrei.
Charlie ließ den Kragen des Mannes los und sammelte sich. Einer Eingebung folgend, zog er eine der Visitkarten aus der Brieftasche des Braumeisters und wedelte damit vor der Nase des Mannes herum.
«Ich bin im diplomatischen Dienst! Geheimpolizei!», behauptete er.
Statt sich einschüchtern zu lassen, griff der Mann mit einer schnellen Bewegung die Karte aus Charlies Hand und betrachtete sie.
«Die Fotografie trifft Sie nicht besonders gut. Sie sollten eine neue anfertigen lassen.» Das Lächeln des Mannes war mittlerweile süffisant. «Sie haben sicher nichts dagegen, wenn ich sie behalte?» Er steckte die Karte ein.
«Das ist bloß Tarnung. Ich bin Brite, mein Name ist Charles Peter Jackson», stammelte Charlie.
«Dann können Sie sich sicher entsprechend ausweisen?»
Charlie schwieg.
«Nun, dann wünsche ich noch einen schönen Abend, Mister Jackson. Auf Wiedersehen.»
«Warten Sie! Ich will wissen, wer Sie sind!»
Der Mann mit dem Opernglas drehte sich noch einmal um.
«Das werden Sie doch ganz leicht herausfinden, wenn Sie Geheimpolizist sind.»
Verdammte Lügen! Charlie verfluchte sich, aber was konnte er tun, außer leere Drohungen auszustoßen?
«Halten Sie sich von Hetti fern!», rief er dem Mann hinterher. «Oder Sie bekommen es mit mir zu tun!»
Doch der Fremde war bereits fort, verschluckt von der Dämmerung und dem wieder einsetzenden Regen.
Einen Moment lang erwog Charlie, ihm zu folgen, herauszufinden, wo er wohnte. Doch Hetti war wichtiger. Er musste sichergehen, dass sie unversehrt war.
Charlie drückte die Haustür auf und eilte, immer drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppen hinauf, der Marmor an den Wänden warf den Klang seiner Schritte zurück. Er begann im vierten Stockwerk und arbeitete sich abwärts voran. Keine der Türen war beschädigt, nirgends gab es Spuren von Gewalt. Das Treppenhaus war leer, und die Geräusche, die aus einigen der Wohnungen kamen, waren unverdächtig, bloß Gespräche und Gelächter.
Im ersten Stockwerk schließlich fand er ihre Tür, ein Messingschild trug die eingravierte Aufschrift
Ada & Henriette Keller
. Belle Etage, wo die besseren Leute wohnen, die mit den Hinterhaustreppen, über die das Personal ein und aus ging. Charlie wollte klingeln, um sich zu vergewissern, er hatte die Klingel bereits in der Hand, als er hinter der Tür eine fremde Frauenstimme hörte.
«Du bist mir immer noch eine Antwort schuldig, Henriette. Wo bist du gewesen?»
Keine Antwort.
«Wo kommst du so spät her?»
«Es ist doch noch nicht einmal acht, Mutter. Und ich war auf einem Rummel. Mit einem Begleiter, den ich aus dem Theater kenne.»
«Rummel? Begleiter!»
«Ja, Mutter. Und ich bin noch immer gesund und unversehrt.»
Hetti klang wütend, und Charlie ahnte, dass ihr Zorn sich eher gegen ihn als gegen die Mutter richtete.
Charlie wollte mehr erfahren, aber sein Anstandsgefühl verbot es ihm. Was er wissen musste, hatte er bereits erfahren: Hetti war unversehrt. Wenn er länger blieb, würde er vielleicht Dinge hören, die er im Grunde gar nicht hören wollte. Nicht auf diese Weise. Er wollte Hettis Vertrauen. Er hatte versprochen, es sich zu verdienen.
Charlie entfernte sich so leise wie möglich, trat auf die Straße, spannte seinen Schirm auf und machte sich im zunehmenden Dunkel auf den Weg nach Hause zu Frau Liese, in sein kleines, sauberes Zimmer mit dem ganzen Bett für sich allein.
Das Bett war mit weißem Leinen bezogen, die Vorhänge hellgrün, der Teppich dunkelrot, und die Muster darauf zerflossen vor Charlies halb geschlossenen Augen zu schmutzigen Pfützen. Charlie blinzelte das Brennen weg und richtete sich im Sessel auf, griff nach der Gabel und stocherte in den grünen Bohnen herum, die neben ihm auf dem Tischchen standen und längst kalt geworden waren.
Man konnte es bei Frau Liese aushalten, ziemlich lange sogar, weil Frau Liese nämlich nicht nur das Waschwasser und das Frühstück brachte, sondern auch alle anderen Mahlzeiten, wenn Charlie darum bat. Es gab für ihn nur zwei Gründe, das Wochenende nicht komplett im Bett zu verbringen.
Der erste war, dass Frau Liese ihn nicht ließ. Sie betrat so lange immer wieder das Zimmer wegen irgendwelcher vorgeblich notwendiger Verrichtungen, bis sie ihm mit ihrer Geschäftigkeit auch den letzten Rest von selbstvergessener Bettschwere ausgetrieben hatte. Am Samstag hatte er noch versucht, sich krank
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