Kaltes Herz
erlogen.
«Bitte, Hetti, zwingen Sie mich nicht dazu. Bitte vertrauen Sie mir einfach», flehte er.
Hetti blickte ihn an, nickte dann.
«Einverstanden. Ich werde es versuchen.»
Der Rest der Mahlzeit zog sich hin, und Charlie hatte das Gefühl, bersten zu müssen von all dem Essen. Es war das erste Mal, dass ihn und Hetti eine solche Schwere umgab, wie ein unsichtbarer Dunst, der all das Schöne und Große, dass er mit ihr erlebt hatte, zu vergiften drohte, und ein Teil von ihm wusste, dass nur die Wahrheit diesen Dunst auflösen würde.
«Schichtwechsel, die Herrschaften. Das macht fuffzich Pfennige», sagte das Mädchen mit den aufgekrempelten Ärmeln. Sie war wie ein Flaschengeist aus dem Dunst aufgestiegen, mit empfangsbereit ausgestreckter Hand.
Charlie tastete nach der Brieftasche in seinem Jackett. Als er bezahlte, starrte der Mann am Tisch hinter Hetti ihn unverwandt an, stechend und unangenehm, sodass Charlie dem Blick auszuweichen versuchte. Dann stand der Mann auf, und Charlies Unbehagen verstärkte sich. Langsam dämmerte ihm, dass er diesen Mann kannte: Es war der Mann aus dem Filmzelt. Braumeister Gustav Faust. Warum sollte er auch nicht hier sitzen, schließlich war es sein eigenes Fest? Und warum war Charlie so dumm gewesen, nicht einmal daran zu denken, als er auf die Idee verfallen war, mit Hetti hierherzukommen?
Charlie steckte die Brieftasche ein, stand auf und zog Hetti wortlos hinter sich her.
«He! Sie!»
Die Stimme des Braumeisters überschlug sich.
«Sie! Stehen bleiben! Dieb! Haltet den Dieb!»
Charlie begann zu rennen, zog Hetti mit sich.
Schon wieder rannten sie, verließen den Rummel durch das Haupttor an der Greifswalder Straße, der Affe am Eingang fauchte ihnen hinterher, und sie sprangen in die erste Straßenbahn, die mit elektrischem Singen vor ihnen zum Stehen kam.
Charlie bückte sich, um besser aus dem Fenster sehen zu können. Zum Glück war Braumeister Faust plump und schwer. Er stand am Ausgang seines eigenen Rummels, hielt sich die Brust und schüttelte Charlie drohend eine Faust hinterher.
Hetti ließ sich auf einen hölzernen Sitz fallen. Diesmal wirkte sie nicht amüsiert, da war kein Flackern und kein Lachen in ihren Augen. Charlie war sich bewusst, dass alle Indizien gegen ihn sprachen, und er war froh, dass sie keine Fragen stellte.
«Sollte ich vielleicht mit hinaufkommen und mich endlich einmal Ihrer Mutter vorstellen?», fragte Charlie halb ängstlich, halb hoffnungsvoll, als sie vor Hettis Haustür angekommen waren.
«Besser nicht. Meine Mutter ist auf so etwas nicht vorbereitet. Geben Sie ihr Zeit, Charlie. Und mir auch. Wir sehen uns am Montag wieder.»
Er gab ihr die Hand. Der dünne Stoff ihres Kleides bildete bebend ihren Herzschlag ab, und wieder irritierte ihn etwas daran, das er jedoch nicht benennen konnte.
«Versprochen?»
«Versprochen. Um acht Uhr, wie immer.»
Kurz hoffte Charlie, sie würde es zulassen, dass er sie noch einmal an sich zog. Doch sie ließ seine Hand los, wandte sich um und verschwand im Haus.
Heute war Freitag. Drei Tage und Nächte waren es bis Montag.
Charlie konnte sich nicht entschließen, nach Hause zu gehen. So vieles war ungesagt geblieben, so vieles war in der Schwebe.
Er blieb vor Hettis Haus stehen, minutenlang, und blickte an der Fassade hinauf. Hinter welchem dieser Fenster mochte sie wohnen? Dann ging die Haustür ein weiteres Mal auf und Charlies Herz machte einen Satz. Es war der Mann mit dem Opernglas, der auf die Straße trat.
Hatte er auf Hetti gewartet, ihr im Treppenhaus aufgelauert? Ihr etwas angetan? Oder war er, wie Hetti vermutet hatte, bei ihrer Mutter gewesen?
Es war zu spät, sich zu verstecken, also richtete Charlie sich auf und blickte dem Mann fest entgegen. Er ging dicht an Charlie vorbei, tippte sich mit einem ironischen Lächeln an den Hut und ließ den Blick einige Sekunden lang auf Charlie ruhen, ganz so, als prüfe er ihn.
Charlie hatte es satt, er wollte, dass dieser Mann aus seinem und Hettis Leben verschwand. Er packte zu, drückte ihn mit dem Rücken gegen die Hauswand.
«Wer sind Sie? Was wollen Sie von uns?», zischte Charlie ihm ins Gesicht.
Es war ein rundes, flaches Gesicht mit halbmondförmigen Augen und Krähenfüßen in den Winkeln. Er mochte gut vierzig Jahre alt sein. Und er lächelte noch immer, ein Lächeln, das Charlie seltsam vertraut vorkam. Müsste er diesen Mann kennen? Hatte Hetti recht, dass er etwas mit seiner Vergangenheit zu tun
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