Kaltes Herz
zu stellen, aber Frau Liese hatte dieses Ansinnen mit Kleiesuppe, Senfwickeln und Kamillentee bestraft, bis es ihm ziemlich schnell besser ging und er aufstand. Die nächsten zwei Stunden war er auf und ab gegangen, hatte sich den Scheitel einmal links und einmal rechts gezogen, hatte im Sessel gesessen und über Hetti und den Mann mit dem Opernglas nachgegrübelt, und das hatte zu dem zweiten Grund geführt, warum Charlie das Wochenende nicht im Bett verbringen konnte: Das dringende Gefühl, auf Hetti aufpassen zu müssen, trieb ihn aus dem Haus, und er begann, immer größere Kreise zu ziehen, um den Mann mit dem Opernglas vielleicht dabei zu erwischen, wie er ihn beschattete. Vielleicht hätte er mehr Erfolg gehabt, wenn er sich selbst ein Opernglas besorgt hätte.
Am Sonntag wagte Charlie sich dann in die Innenstadt und stand im Schatten einer Einfahrt in der Nähe von Hettis Wohnhaus. Er beobachtete die Tür und die Fenster im ersten Obergeschoss. Doch es tat sich rein gar nichts, über Stunden, Charlie hatte Durst und musste auf die Toilette, und als Hetti und eine ältere Dame in Schwarz, wahrscheinlich ihre Mutter, dann aus der Richtung, in die er natürlich nicht geschaut hatte, an ihm vorbeieilten und er sich gerade noch durch die Einfahrt in den Hof verdrücken konnte, gab er die Beschattung wieder auf. Nicht auszudenken, wenn sie ihn dabei erwischte!
Als Charlie am Sonntagnachmittag nach Hause kam, wollte er sich wieder ins Bett rollen. Doch Frau Liese bestellte Charlie in ihre Küche und befahl ihm, sich zu setzen.
«So», sagte sie schlicht, die Fäuste in die kräftigen Hüften gestemmt. «Geht es um ein Mädchen?»
Charlie nickte.
«Wo ist das Problem? Sie sind doch ein hübscher Junge.»
Charlie war unschlüssig, ob er Lust hatte, seiner Wirtin von den Gedanken und Fragen zu erzählen, die ihn quälten, doch als sie einen Krug frisch vom Brauereiwagen gezapftes Bier vor ihn hinstellte, fühlte er sich zu ein wenig Entgegenkommen verpflichtet. Was sollte er sagen? Dass sie ihn für einen Dieb halten musste, dass er sie belogen hatte?
«Ich denke, ich habe mich bei ihr in ein schlechtes Licht gesetzt. Vielleicht ist sie auch einfach zu gut für jemanden wie mich. Wie könnte ich jemanden wie sie überzeugen, dass jemand wie ich der Richtige für sie ist?»
Die Frage war rhetorisch gemeint, aber Frau Liese ging darauf ein.
«Wie?!»
Ihr schallendes Lachen erfüllte die Küche. Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich Charlie gegenüber.
«Sie wollen mir doch wohl nicht erzählen, dass Sie nicht wüssten, wie man ein Mädchen überzeugt?»
Charlie hätte mit seinen Eroberungen prahlen können, aber er hatte nicht die Energie dazu. Und es war ihm auch egal, was Frau Liese von ihm hielt, und so zuckte er nur mit den Schultern.
«Als Erstes sollten Sie mal gerade sitzen! Wenn Sie sich so hängenlassen, ist es kein Wunder, wenn Sie durchfallen. Eine Frau will einen richtigen Mann, einen, der sie mit Bestimmtheit anfasst, der sagt, wo es langgeht.»
Charlie konnte nicht anders, er musste über Frau Liese lachen. So, wie sie es sagte, klang es kinderleicht. Aber sagen, wo es langgeht, das kann man nur, wenn man den Weg kennt.
«Lachen Sie nur. Aber ich sag Ihnen, man muss sie erobern.» Es hätte Charlie nicht gewundert, wenn Frau Liese ihm freundschaftlich auf die Schulter geschlagen hätte, als wäre sie selbst ein Kerl.
«Na los, nur nicht zu zaghaft!»
Charlie trank von seinem Bier und atmete durch.
«Sie haben ja recht», sagte er kleinlaut.
Natürlich hatte sie recht. Schließlich wusste er in diesen Dingen tatsächlich Bescheid. Vielleicht fehlte ihm in letzter Zeit nur ein wenig das Selbstvertrauen und die Übung.
«Sie haben vollkommen recht.»
Diesmal klang es schon überzeugter, und zum ersten Mal an diesem Wochenende war Charlie beinahe sicher, dass er Hetti für sich gewinnen konnte. Wenn er sich als Mann zeigte und nicht als Nervenbündel.
«Na sehnse», sagte Frau Liese. «Sag ich doch. Sie müssen das nur entschlossen angehen. Möchten Sie noch ein Bier?»
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4
C harlie zwang sich, nicht in den Nebel hinauszustarren, sondern nach unten, auf die Zeitungsmeldungen zu seinen Füßen.
Tuberkulose auf dem Rückzug. Neuer Stadtbahnabschnitt vollendet. Die Welt in hundert Jahren: Waschmaschinen, Radiummedizin und automatischer Krieg.
Er ging ein paar Schritte die Friedrichsgracht auf und ab, seine Schuhe rutschten über das Kopfsteinpflaster. Das
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