Kaltes Herz
sagte Hetti. «Wer sind Sie, Charles Peter Jackson? Wie kann ich jemanden lieben, den ich nicht einmal kenne?»
Charlie musste einen kühlen Kopf bewahren, durfte jetzt keinen falschen Schritt machen.
«Sehen Sie in mein Herz, denken Sie an unseren gemeinsamen Ort. Wir kennen einander besser, als sich je zwei Menschen gekannt haben. Können Sie das nicht sehen?»
Sie senkte den Blick. «Ich weiß es nicht … sehen Sie, ich bin noch sehr jung und … unerfahren.»
Charlie spürte, wie er die Oberhand gewann und lachte. «Das macht mich zum erfahreneren Part. So kann ich Sie besser beschützen, und Sie werden singen, und ich will …»
Hetti wischte seine Worte mit einer knappen Geste fort.
«… und Sie sind sehr fordernd, wollte ich sagen. Und ich bin recht leicht zu beeindrucken, wie es scheint.» Sie verschränkte die Arme. «Ich weiß immer noch nicht mehr über Sie, als dass Sie mich vor einem Verfolger zu beschützen behaupten, ohne mit Sicherheit zu wissen, ob nicht eigentlich Sie derjenige sind, der verfolgt wird. Woher weiß ich, wer in diesem Spiel der Gute, wer der Böse ist?»
Charlie blieb stehen, fasste sie an den Schultern und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen.
«Vertrauen Sie mir», sagte er. Es sollte nicht wie eine Bitte, es sollte wie ein Befehl klingen, und Charlie hoffte, dass Hetti die Furcht nicht hören konnte, die er unter den Worten versteckt hatte. Denn sie hatte ja recht, und er war im Unrecht.
«Was ist mit Ihrem Vertrauen in mich? Warum sprechen Sie nicht offen mit mir? Warum hat der Mann auf dem Rummel Sie als Dieb bezeichnet?»
Charlie ließ Hettis Schultern los. Noch mehr als die erste Lüge verfluchte er in diesem Moment seine Furcht davor, welche Wirkung die Wahrheit auf sie haben mochte. Es lag Kraft in der Wahrheit, doch in diesem Fall bedeutete Wahrheit Erniedrigung. Es war und blieb unmöglich. Hetti stand vor ihm, abwartend, in den Augen noch immer jener silbrige Glanz. Er konnte sich ihrem Urteil nicht ausliefern, nicht wenn sie so zornig war. Er hatte keine Wahl. Er würde alles oder nichts verlangen.
«Wenn Ihr Herz so kalt ist und Sie nicht einfach den Mann lieben können, der vor Ihnen steht, dann ist es vielleicht besser, dass wir uns nicht mehr sehen.» Er hörte selbst, wie flach und überheblich seine Worte klangen.
Hetti senkte den Kopf, die sonst so ausdrucksstarken Hände hingen hilflos an ihren Seiten herab.
Charlie sprach weiter, aufrichtig jetzt.
«Hetti, verzeihen Sie mir. Ich fürchte, dass Sie recht haben. Ich bin Ihres Vertrauens nicht würdig, und ich kann Ihnen nichts von dem geben, was einem Wesen wie Ihnen gebührt. Ich hatte nur gehofft, wenn Sie mich ebenso liebten wie ich Sie, dann könnten wir das Trennende überwinden, und ich könnte in Ihrem Licht wachsen, bis ich Ihrer würdig bin.»
Charlie hätte noch mehr sagen wollen, doch seine Kehle war zu eng.
«Nun. Dann ist es vielleicht am besten so», flüsterte Hetti.
Als sie ihn ansah, war aller Zorn aus ihren Augen gewichen. Charlie blickte in mattschwarze Abgründe, in die er sich zu Tode stürzen wollte.
Er wandte den Blick ab, schaute auf seine Uhr, zehn Minuten nach acht. Er schämte sich.
Hetti reichte ihm die Hand.
«Auf Wiedersehen, Mister Jackson. Ich habe meine Zeit sehr gerne mit Ihnen verbracht. Ich werde jetzt gehen.»
Charlie verbeugte sich, vollendet galant.
«Auf Wiedersehen, Fräulein Keller … Ich …»
Charlie verstummte, als auch Hetti ansetzte, etwas zu sagen. Er wartete, hoffte, dass alles nur ein Irrtum war, dass er etwas falsch verstanden hatte. Nur, wie konnte er etwas falsch verstehen, das er selbst gesagt hatte?
Hetti wandte sich um. Nach wenigen Metern war ihre Gestalt im Nebel verschwunden.
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5
D er darauffolgende Freitag war der erste Tag im Mai, der von morgens bis abends ungetrübt und voller Sonne zu werden versprach. Das Wasser im Kanal glitzerte, die Vögel flatterten in den jungen Kastanien umher, und ein warmer Frühlingshauch lag in der Luft. Charlie stand mit den Ellenbogen auf das Geländer über der Friedrichsgracht gestützt, eine Morgenzeitung unter den Arm geklemmt. Es war acht Uhr siebenunddreißig.
Hetti war nicht gekommen, weder am Dienstag noch am Mittwoch, noch an den darauffolgenden Tagen. Und auch heute war sie nicht gekommen. Natürlich nicht.
Charlie wandte sich vom Wasser ab, blinzelte in die Sonne. Die ganze Woche über hatte er bis neun Uhr gewartet, manchmal hier, dann wieder vor ihrem
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