Kaltes Herz
bringen.
Lieber wollte er an die Zukunft denken. Vielleicht konnte er sich Hetti herbeidenken. Ihre Tiefe, die nicht recht zu dem fröhlichen Mädchen passen wollte, das beides gehörte untrennbar zusammen. Vielleicht waren Unschuld und Leidenschaft, Kindlichkeit und die Weisheit eines ganzen Lebensalters in Wahrheit keine unüberbrückbaren Gegensätze, sondern bedingten einander. Das eine konnte es ohne das andere nicht geben. Nicht in dieser Vollkommenheit, die Hetti verkörperte. Jemand wie sie wurde nur einmal in hundert Jahren geboren. Er würde nicht verlangen, dass sie ihn liebte. Er wollte nur, dass sie ihr Licht auf ihn scheinen ließ. Er hatte sie nicht ernst genommen, einem Wesen wie ihr durfte man die Wahrheit nicht verweigern, sie war zu erhaben, um sie zu belügen. Sie war unbezwingbar. Charlie schwor sich: Sollte er sie je wiedersehen, würde er ihr sein Leben weihen. Wenn nur Willem endlich kam und ihm sagte, dass sie da war. Dass sie auf ihn wartete.
Als Charlie am Abend das
Café Bauer
verließ, vom vielen Denken und Kaffee zugleich müde und rastlos, entschloss er sich zu tun, was er seit einer Woche nicht gewagt hatte: Er ging hinüber zum
Wintergarten
, grüßte den schnauzbärtigen Kassierer und kaufte ein Billett für seinen angestammten Logenplatz, strich sein Wechselgeld vom Zahlteller und drehte sich um, um in den Saal zu gehen.
«Fräulein Keller wird aber heute Abend nicht auftreten», sagte der Kassierer hinter ihm.
Charlie hielt inne. «Nicht?»
«Laryngitis. Die Stimme ist weg.»
Charlie wurde vor Schrecken und Zorn auf sich selbst beinahe schwarz vor Augen. Er hatte den ganzen Tag herumgesessen, nur um zu erfahren, dass Hetti krank war? Wie einfach und naheliegend wäre es gewesen, das schon heute Vormittag zu erfragen. Der Kassierer hatte ihn erkannt, er hatte ihn nicht hinausgeworfen, er hätte einfach herkommen können. Er hätte längst bei Hetti sein und sie um Verzeihung bitten können. Charlie ließ langsam den angehaltenen Atem entweichen. Also gut, jetzt nicht gleich losstürzen, sondern nachdenken. Vielleicht wusste der Kassierer noch mehr.
«Und was ist mit dem Mann mit dem Opernglas, kommt er auch an Abenden, an denen Fräulein Keller nicht singt?»
«Hier kommen viele mit Opernglas. Welchen meinen Sie?»
«Einen fein gekleideten Herrn, asiatische Augen.»
Der Kassierer zog die Mundwinkel runter und die Schultern hoch.
«Keine Ahnung, wen Sie meinen», sagte er und sah an Charlie vorbei einem ältlichen Paar nach, das seine Mäntel an der Garderobe abgab.
Charlie hatte den Eindruck, dass der Kassierer ziemlich genau wusste, von wem er sprach. Dass er den Mann vielleicht sogar kannte. Ihn deckte. Sich bezahlen ließ. Aber wovor deckte? Für was bezahlen ließ? Charlie seufzte. Sinnlose Spekulationen. Er ließ sein Billett liegen und lief los.
Den Weg bis zur Brüderstraße rannte Charlie beinahe, er stieß die Eingangstür von Hettis Wohnhaus auf, lief die Treppe hinauf. Die Wahrheit und die Bitte, ihm zu verzeihen, mehr hatte er nicht anzubieten. Erster Stock, linke Wohnung, im Treppenhaus war es kalt wie in einer Gruft. Charlie strich sich über das Haar und wartete, bis er zu Atem kam, bevor er klingelte, einmal, noch einmal, erst dann hörte er schwere Schritte hinter der Tür.
Kein Dienstmädchen öffnete, sondern die Hausherrin selbst. Sie stand vor ihm auf dem blank polierten Fischgrätparkett, das Gesicht steinern wie das einer unüberwindlichen Sphinx. Sie hatte nichts von der Eleganz ihrer Tochter, nicht den leisesten Abglanz ihrer Schönheit. Sie trug schwarz. Schwarz wie ein schwindelerregender Abgrund, der sich vor Charlie auftat.
«Was hat das zu bedeuten?» Charlie hatte Mühe, die Worte hinauszuwürgen. «Was ist mit ihr?»
Charlie versuchte an Frau Keller vorbei einen Blick in die Wohnung zu werfen, doch sie verstellte ihm die Sicht.
«Lassen Sie mich zu ihr!»
«Sie ist weg.»
Er trat näher, am liebsten wollte er sie fortstoßen.
«Ich sagte, sie ist weg.»
«Was bedeutet das, weg?»
«Fort. Weg. Endgültig abgereist.»
Charlie stand so dicht vor ihr, dass er ihren Atem im Gesicht spürte. Sie wich keinen Zentimeter von der Schwelle. Er hatte sie mit Hetti auf der Straße gesehen, bei seinem missglückten Beschattungsversuch, und auch da hatte sie Schwarz getragen. Es hatte nichts zu bedeuten, Hetti lebte.
«Sind Sie dieser Herr Jackson?», fragte Frau Keller kalt.
Charlie nickte.
«Sie hat von Ihnen erzählt.»
«Frau
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