Kaltes Herz
Keller, ich …»
«Bekomme ich jetzt auch die Geschichte von Henriettes gefährlichem Verfolger zu hören? Sind Sie ihm schon ganz dicht auf der Spur? Ich habe mich erkundigt, Mister Jackson, habe Informationen eingeholt. Sie sind ein erbärmlicher Lügner und ein Dieb.»
Charlie atmete bewusst langsam. Vielleicht gab es dennoch ein Mittel, an ihr vorbeizukommen. Das Mittel, das er bei Hetti nicht einzusetzen gewagt hatte.
«Frau Keller, Sie kennen nur einen Teil der Wahrheit. Bitte lassen Sie mich Ihnen alles erzählen, bevor Sie mich verurteilen. Ich bin kein schlechter Mensch, und ich habe ihre Tochter nicht verletzen wollen. Ich liebe sie aufrichtig, und sie zu verlieren zerreißt mich. Ich muss sie wiedersehen!»
«Sie hat tagelang geweint, hat beinahe ihre Stimme verloren.»
Der harte Ausdruck auf Frau Kellers Gesicht wich, plötzlich fing sie selbst an zu weinen.
«Sie kommt nicht mehr zurück, und das ist Ihre Schuld.»
Frau Keller schnäuzte sich, die Augen über dem Taschentuch blickten Charlie vorwurfsvoll an.
«Bitte, sagen Sie mir, wo ich sie finden kann.»
Frau Keller musterte Charlie, wie man einen widerlichen Käfer unter die Lupe nimmt, zugleich fasziniert und voller Ekel. Als sie antwortete, hatte sie sich wieder ganz im Griff.
«Das werde ich selbstredend nicht tun. Und ich werde natürlich die Polizei verständigen. Dass Sie es überhaupt wagen, hier zu erscheinen!»
Dann schlug Ada Keller Charlie die Tür vor der Nase zu.
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6
A da Keller wühlte in der großen Wochenendtasche, die sie, gut gefüllt mit allem, was man unterwegs möglicherweise brauchen konnte, immer bei sich trug. Sie förderte ein altmodisches Fläschchen zutage, entkorkte es und hielt es Henriette unter die Nase. Das beißende Ammoniak vertrieb den Geruch nach Pferd und Leder und ließ sie zusammenzucken. Sie schob die Hand ihrer Mutter weg.
«Komm, Kind, du bist ganz grün im Gesicht.»
Henriette rang sich ein Lächeln ab.
«Mutter, es geht mir gut.»
Henriette konnte kaum flüstern, so wund war ihre Kehle, und natürlich konnte ihre Mutter sie beim Gerumpel der Räder nicht verstehen. Tatsächlich war Henriette ein wenig übel in der feuchtkalten Düsternis des Wagens. Dennoch ließ Ada Keller das Riechsalz nach einem prüfenden Blick in Henriettes Gesicht wieder in ihrer Tasche verschwinden.
Henriette lehnte den Kopf an die Seitenscheibe und versuchte, die Einsamkeit nicht so sehr zu spüren. Vor dem Fenster schaukelten schlammige Felder vorbei, überschwemmte Wiesen und dampfendes Vieh, das sich unter vereinzelt stehenden Bäumen zusammendrängte. Sie würden noch wenigstens zwei weitere Stunden unterwegs sein, bevor sie Gramstett erreichten, wo Henriettes einzige Verwandten lebten. Verwandte, von denen sie bis vor wenigen Tagen noch nicht einmal gewusst hatte, weil Mutter sie ihr verheimlicht hatte oder sie sich verleugnen ließen. Henriette schloss die Augen.
Ada Keller legte Henriette ihr Wollcape um die Schultern, drückte sie kurz. Henriette wusste, dass es ihr schwerfiel, sie fortzugeben, und obwohl sie sicher zwanzigmal danach gefragt hatte, hatte sie keinen anderen Grund zu hören bekommen, als dass das Landleben sie auf andere Gedanken bringen sollte.
Warum so schnell, warum so plötzlich fort aus Berlin? Warum musste sie allein gehen? Warum konnten sie und Mutter nicht gemeinsam eine Reise unternehmen, etwas Vergnügliches tun, vielleicht an die Ostsee? Henriette hätte gerne einmal das Meer gesehen, und sie war sich sicher, dass sie das eher auf andere Gedanken gebracht hätte als Kühe im Regen. Schon wieder zog sich Henriettes Kehle schmerzhaft eng zusammen, schon wieder quollen Tränen zwischen ihren geschlossenen Lidern hervor, schon wieder befand sie sich an diesem einsamen Ort in ihrem Innern, in der Dunkelheit. Charlie war nicht dort. Er hatte sie verlassen.
Entschlossen wischte Henriette die Tränen mit dem Handrücken fort. Sie wollte nicht mehr weinen, nicht wegen des
Wintergartens
oder Professor Altheim. Nicht wegen Mutter, die streng und unerbittlich und kaum wiederzuerkennen war, seit sie von Charlie Jackson wusste. Und schon gar nicht wegen Charlie Jackson. Was fand sie überhaupt an ihm? Er sah gut aus, aber das taten viele. Er brachte sie zum Lachen, doch das konnte es auch nicht sein, sie hatte auch ohne ihn gelacht. Aber er hatte etwas in ihr geweckt, eine Sehnsucht nach etwas, das sie noch immer nicht benennen konnte. Zum ersten Mal hatte sie
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