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Kaltes Herz

Kaltes Herz

Titel: Kaltes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Freise
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Haus, immer in Furcht, genau am falschen Platz zu stehen und sie zu verpassen. Um Punkt neun Uhr zwang er sich zu gehen, zurück in sein Zimmer, wo er versuchte, die Zeit bis zum nächsten Tag, so gut es ging, zu verschlafen. Er hatte gehofft, der Schmerz würde abnehmen und schnell zu einer blassen Erinnerung werden, so wie immer, wenn es mit einem Mädchen zu Ende ging. Stattdessen war das Loch in seiner Brust mit jedem Tag größer geworden. Vielleicht war eine Woche zu wenig, um sich so sicher sein zu können. Dennoch gab es für Charlie keinen Zweifel: Es würde schlimmer werden, Tag für Tag. Er würde Hetti nicht vergessen. Und er würde es den Rest seines Lebens bereuen, wenn er nicht wenigstens versuchte, sie zurückzugewinnen. Charlie knüllte seine Zeitung zusammen und warf sie in den Kanal. Besser heute als morgen. Heute würde er sie zurückgewinnen. Jetzt!
     
    Zuerst klingelte Charlie bei Professor Altheim, doch niemand öffnete. Vielleicht war der alte Mann nicht zu Hause oder verreist. Oder krank. Vielleicht fielen Hettis Stunden schon die ganze Woche über aus. Das würde erklären, warum er sie morgens nie aus dem Haus hatte kommen sehen.
    Als Nächstes ging Charlie zum
Wintergarten
, stand eine Weile unschlüssig vor dem Künstlereingang. Er fürchtete, Hetti könnte veranlasst haben, dass man ihn des Hauses verwies, sobald er einen Fuß über die Schwelle setzte. Und so wartete er, bis die Künstler und Bühnenarbeiter zur Frühstückspause aus dem Gebäude kamen, um am Kanal in der Sonne ihre mitgebrachten Butterbrote, Zwiebeln und kalte Suppe zu essen. Zu Hause bei Frau Liese hatte Charlie keinen Bissen heruntergebracht, und nun knurrte sein Magen, und er fühlte sich hohl und viel zu leicht, so als könnte er jeden Moment von einer leichten Brise davongetragen werden.
    Dann kam Willem zusammen mit ein paar Tanzmädchen heraus, er strich um sie herum und versuchte, mit kleinen Taschenspielertricks auf sich aufmerksam zu machen. Die Mädchen lachten über ihn, aber es schien ihn nicht zu stören.
    «He, Willem!», rief Charlie ihm von der anderen Straßenseite aus zu. «Komm mal rüber.»
    «Was gibt’s denn, Meister?»
    Die Schuhe an seinen Füßen hatte der Junge offenbar auf Zuwachs gekauft, sie waren zu groß, und sein Gang hatte etwas Watschelndes, als er über die Straße gelaufen kam.
    «Weißt du, wann Fräulein Keller heute kommt?»
    Willem zog die Schultern hoch und ließ sie wieder fallen.
    «Soll das heißen, du weißt es nicht?»
    «Nö.»
    «Also weißt du es doch?»
    «Nee, keine Ahnung.»
    Charlie seufzte.
    «Schön, hör zu. Sobald sie kommt, sag mir Bescheid. Ich bin drüben im
Café Bauer

    Der Junge nickte, und Charlie gab ihm einen Sechser, als er die Hand aufhielt.
    Im
Bauer
fand Charlie einen Einzeltisch am Fenster, von wo aus er die Straße und, wenn er sich weit vorbeugte, auch eine Ecke des
Wintergartens
sehen konnte. Er wusste nicht, auf wen er mehr lauerte, auf Hetti oder auf den Mann mit dem Opernglas, der sich in der ganzen letzten Woche ebenfalls nicht hatte blicken lassen. Und daran änderte sich auch nichts, ganz gleich, wie viele Kaffees Charlie bestellte und wie viele Zeitungen zu lesen er vorgab. Wahrscheinlich hatte er alles falsch gemacht, was man falsch machen konnte. Wie Hetti sich hingegeben hatte, als er sie geküsst hatte. Und wie wenig sie davon verstand, wie diese Welt funktionierte. Obwohl er es nicht wollte, musste Charlie wieder an seinen Vater denken. Ohne ihn wäre er nicht nach Berlin gekommen, ohne ihn hätte er Hetti nicht getroffen. Und ohne ihn wäre er nicht zu einer Lüge gezwungen gewesen. Hass ergriff Charlie mit eisiger Hand, fast wünschte er, der Tod seines Vaters wäre kein Unfall, fast wünschte er, er hätte zu Recht aus London verschwinden müssen. Und wer weiß, vielleicht
war
es Absicht gewesen, eine Absicht, die er sorgsam vor sich selbst verborgen hatte. Er konnte ihn beinahe vor sich sehen, die wassersüchtige Gestalt, die geplatzten Adern im Gesicht, den vorwurfsvollen Blick, das Schmarotzerhafte. Charlie hatte Mitleid gehabt. Ein Fehler, und es war schiefgegangen, was schiefgehen konnte. Und das Blut würde nie wieder rausgehen aus seinem neuen Daunenkissen, das Blut und das andere, das … Mit einem Ruck riss Charlie sich aus den Erinnerungen, fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht, um die Vergangenheit fortzuwischen, nahm einen großen Schluck Kaffee und winkte dem Kellner, ihm ein neues Kännchen zu

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