Kaltes Herz
sagte Tante Johanne.
Dann ging sie hinaus.
Ida zog den einzigen Stuhl im Zimmer neben Henriettes Bett und setzte sich.
«Sie ist eigentlich fürsorglich, wenn jemand krank wird», sagte sie entschuldigend, tauchte den Zuckerlöffel in die Brühe und hielt ihn Henriette an den Mund wie einem Breikind, dessen Lippen man mit dem Löffel reizte, damit es den Mund aufsperrte. Doch obwohl der Löffel winzig war, passte nur seine Spitze zwischen Henriettes Lippen, und der Geruch nach gekochtem Rind ekelte sie.
«Eigentlich holt Mutter sonst immer Doktor Pfeiffer. Er ist furchtbar schwerhörig. Besonders wenn er seine Pfropfen in den Ohren hat. Du weißt schon, das Ding, mit dem man Herz und Lunge abhorcht. Er vergisst immer, es wieder rauszunehmen, und niemand traut sich, ihn darauf hinzuweisen. Er ist nämlich sehr würdevoll.»
Ida löffelte ihr geduldig winzige Brüheschlucke in den Mund und plapperte von Leuten, die Hetti noch nie in ihrem Leben gesehen hatte. Dann schob sie den Löffel weg. Sie hatte Angst, sich erbrechen zu müssen, wenn sie auch nur noch einen Tropfen davon bekam, und sie fühlte sich so erschöpft, als habe sie eine Mahlzeit mit Kartoffelklößen und fettem Kohl hinter sich.
Ida ging und kam noch ein paar Mal, einmal zum Fiebermessen, dann um ihr den Mund mit einem in Kamillentee getränkten und um den Finger gewickelten Taschentuch auszuwischen, immer fröhlich und plappernd. Sicher wollte sie Henriette nur aufmuntern, die Rolle der Krankenschwester schien ihr Spaß zu machen, wie ein Spiel, das man nicht allzu oft zu spielen bekam, doch Henriette wünschte sich, einfach in Ruhe gelassen zu werden. Sie hatte während all dieser Interventionen kaum fünf Minuten allein zugebracht, den Blick starr zur Zimmerdecke gerichtet, darauf konzentriert, nicht zu weinen, als die Tür schon wieder aufging. Diesmal kam Ida mit einem in Tücher gewickelten irdenen Topf.
«Schmalzwickel», sagte sie, hob Ehrfürchtig den Deckel vom Topf und ließ ihn beinahe fallen.
«Heiß!»
Der geöffnete Topf verströmte einen satten, warmen Tiergeruch. Schweineschmalz. Mit dem Geruch stieg in Henriettes fiebrigem Kopf eine Erinnerung wieder auf: Sie sitzt noch immer vor ihrem Teller. Das Eisbein ist kalt, das Schweinefett klebt erst am Löffel, dann an ihrem Gaumen. Sie sitzt mit dem Rücken zum geschlossenen Fenster am langen Ende des Tisches, gegenüber an der Wand verteilt die Pendeluhr ihr gediegenes Ticken im Raum, wie ein Priester das Weihwasser. Nach jedem Löffel wandert Henriettes Blick dort hinauf zu den Zeigern. Sie kann die Uhr noch nicht richtig lesen, aber sie begreift, es ist mehr als eine Stunde, die sie jetzt schon vor ihrem Teller sitzt, mehr als eine Stunde, in der sie Löffel für Löffel kaltes Fett schluckt. Es dauert lange, bis ein Bissen ihre Kehle hinabgewandert ist, Henriette spürt sie alle, den ganzen Weg bis in den Magen, weil sie nicht kaut, sondern im Ganzen schluckt. Nach jedem Bissen muss sie eine Pause machen, Tränen fortblinzeln, atmen, bevor sie den nächsten Bissen nehmen kann. Mutter sitzt über Eck, am kurzen Ende des Tisches, sie wartet, ohne Henriette zur Eile zu drängen. Henriette möchte sie bitten, das Fenster zu öffnen, doch sie wagt es nicht. Noch nie hat sie Mutter so entschlossen erlebt.
«Du bist zu dünn», hat sie gesagt. «Du brauchst das Fleisch. Du wirst es aufessen.»
Und dann schweigen sie beide, mehr als eine Stunde lang.
Auf dem Teller liegt nun nur noch ein einziger Bissen, ein rosa Stück, eingefasst in bleiche Schwarte. Henriette holt tief Luft, als würde sie auf Tauchgang gehen. Das Fett wackelt auf dem Löffel, als sie ihn zum Mund führt. Sie schließt die Augen, ein letztes Mal schlucken, dann ist es vorbei. Sie spürt den Brocken in der Kehle, spürt, wie er hinabwandert. Und dann drängen von unten her plötzlich all die anderen Brocken gegen ihn an, nach oben. Henriette stößt den Stuhl zurück, springt auf. Zu spät. Das Fleisch, das Fett, alles kommt in einem einzigen, heißen, stinkenden Schwall hoch und ergießt sich über Tisch und Teller, der Geruch ist überwältigend, und er scheint sie zu begleiten, wohin sie von nun an auch geht.
Und nun war er wieder da, stärker denn je. Henriette schloss die Augen und unterdrückte den Brechreiz, während Ida das heiße Schmalz auf zwei zu Rechtecken gefaltete Tücher strich, sie vorsichtig auf ihren geschwollenen Hals und die Wangen legte und sie mit einem Schal fixierte.
Seit jenem Tag mit
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