Kaltes Herz
Schwärze, als Bestandteil der Schwärze, Henriette wusste nicht, wie sie es anders benennen sollte, denn obwohl das Licht dort in dem Schwarz nichts hatte, was es berühren konnte, meinte sie, es sehen zu können, als inneres Leuchten, das aus dem Schwarz selbst hervorging. Dann erinnerte sie sich wieder: Es war dasselbe Schwarz, das sie von ihrem einsamen Ort her kannte. Der nicht mehr einsam gewesen war, als sie ihn mit Charlie geteilt hatte. Vielleicht wartete er dort oben auf sie? Henriette wollte in die Wolkenlichtung springen wie in den nachtschwarzen See zwischen den Berggipfeln, sie lehnte sich weiter hinaus, reckte sich, weiter, weiter …
Ein Schreck fuhr durch ihre Glieder, beinahe wäre sie gefallen, als ihr Blick von einer Bewegung auf der Straße abgelenkt wurde, ein Schatten, der zielstrebig direkt auf die Toreinfahrt des Pflog-Hofes zueilte. Die Erscheinung streifte die scharfe Grenze zwischen Dunkel und Silberlicht, bevor sie aus Henriettes Blickfeld verschwand. Für den Bruchteil einer Sekunde hatten sie und der Schatten einander angeblickt.
Henriette riss sich ins Zimmer zurück, duckte sich, lauschte. Sie hörte Frösche, wahrscheinlich gab es im Wald in der Nähe einen Tümpel, sie hörte auf das Rauschen des Windes in den Kastanien hinter der Remise. Sie hörte Idas Atem, und sie hörte das unterirdische Grollen, das auch in der Nacht nicht aussetzte. Leise schloss sie das Fenster, verschloss auch die Gardinen gründlich, rollte sich unter ihrer Decke zusammen. Der Schatten, den sie gesehen hatte, war der Mann mit dem Opernglas. Sie war sich sicher. Er war hier.
Henriette lauschte erneut. Waren da Schritte im Haus? Stimmen?
Nein, es war eine absolute Stille unter dem allgegenwärtigen Grollen. Eine Stille, so massiv wie das Mondlicht, das sie an ihr Bett genagelt hatte. Nichts bewegte sich.
Henriette versuchte erneut aufzuwachen, versuchte noch einmal, sich im Bett wiederzufinden und festzustellen, dass sie bloß geträumt hatte. Versuchte, aufzuwachen und festzustellen, dass sie zu Hause war, in Berlin, in ihrem Zimmer, und zu wissen, dass sie am nächsten Morgen um acht Uhr früh Charlie an der kleinen Brücke über die Friedrichsgracht treffen würde.
Doch statt zu erwachen, legte sich Erschöpfung über sie, ihre Augen fielen zu, und sie wieder zu öffnen kostete sie übermenschliche Anstrengung. Zudem, wenn sie die Augen geschlossen hielt, dann schien sie beinahe zu Hause zu sein. Und saß da nicht Charlie an ihrem Bett, murmelte er nicht beruhigende Worte? Oder war sie in Gramstett, und Ida murmelte unruhig im Schlaf? Augen zu, Charlie. Augen auf, Ida. Wo träumte sie, wo war sie wach? Henriette wünschte, sie hätte die Vorhänge aufgelassen, damit sie wenigstens etwas sehen konnte. Doch da war sie schon wieder in den Tiefen eines Traums versunken, ihr Körper war fort, und alles, was noch existierte, war ein eindringlicher, fester Herzschlag, entschlossen, keine einzige Sekunde auszusetzen und niemals aufzugeben. Charlie, hörst du das auch?, dachte sie, und dann war auch dieses letzte bisschen Bewusstsein fort.
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9
D ie Uhr zeigte kurz nach elf. Abends oder vormittags? Wann war Johanne zuletzt da gewesen, um ihm etwas zu essen zu bringen? Hatte er Hunger? Einerlei. Nur sollte er jetzt vielleicht von diesem Stuhl aufstehen.
Es wurde Zeit, der Maschine eine echte Aufgabe zu geben, sie aus diesem Leerlauf zu befreien und ihr nützliche Arbeit zuzuweisen. Sie hungerte danach, er konnte es beinahe spüren. Dieses ewige Vor und Zurück der Mangelwalzen war gewaltig, beeindruckend, aber sie hatten nichts zu mangeln, nichts zu walzen, und das wurde ihr nicht gerecht. Sie hatte so viel Kraft, so viel Gewalt. Bettlaken, Tischwäsche, wie konnte ihr das genügen, sie war eine Königin, sie könnte Metall walzen, Stahl stanzen. Dass sie ausgerechnet eine Mangel geworden war, lag nur an der Wäscherei. Heinrich baute die erstaunlichste Maschine der Menschheitsgeschichte, und dann wurde es bloß eine Wäschemangel! Er stieß ein raspelndes Geräusch aus, das er als Lachen zu erkennen gelernt hatte. Er hasste das Geräusch und unterdrückte es für gewöhnlich, aber jetzt brach es einfach aus ihm hervor.
Heinrich hatte Mühe, von seinem Stuhl aufzustehen, die Narben brannten, Phantomschmerzen nagten an seinem Gesicht. Höchste Zeit, dass Johanne kam und mit der Spritze half. Die Strecke vom Sessel bis zur Klingel betrug sieben Meter dreiundfünfzig. Vom Sessel bis
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