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Kaltes Herz

Kaltes Herz

Titel: Kaltes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Freise
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sieben. Dort wohnt im Vorderhaus, erstes Obergeschoss, Ada Keller.»
    «Henriette Kellers Mutter?»
    Charlie nickte. «Du hast gut aufgepasst. Hör zu, ich muss alles wissen, was sie tut. Wo sie hingeht, mit wem sie sich trifft, was dabei geredet wird. Besonders auf Briefe musst du achten. An wen schreibt sie? Von wem bekommt sie Post? Schaffst du das?»
    «Klar.»
    «Und begreifst du auch, warum es Geheimagent heißt?»
    «Niemand darf merken, dass Sie herausfinden wollen, wo Henriette hin ist.»
    Charlie pfiff anerkennend.
    «Schlauer Bengel, was? Frau Keller darf es vor allem nicht merken. Und es gibt noch jemanden, der nichts mitbekommen darf. Ein fremdländisch aussehender Mann, der sich gelegentlich mit Frau Keller trifft.»
    «Woran erkenne ich ihn?»
    «Er wohnt in diesem Hotel, Mitte vierzig, schwarzes, glattes Haar, schlank, Chinesenaugen, elegante Kleidung. Noch Fragen?»
    «Wo treffen wir uns zum Rapport?»
    Der Junge ging übergangslos in seiner neuen Rolle auf. Und er hatte natürlich recht.
    «Wir wohnen in der Belfortstraße, Nummer drei. Unsere Wirtin heißt Frau Liese.»
    Charlie überlegte. Ins Hotel zurückzugehen, um sich an der Rezeption etwas zum Schreiben zu besorgen, war zu unsicher. Der Mann mit dem Opernglas könnte ihn dort sehen.
    «Am besten, du besorgst mir aus dem
Wintergarten
Papier und Bleistift, dann schreibe ich eine Empfehlung. Dann kannst du dich dort auch gleich krankmelden.»
    Der Junge rannte los, bevor Charlie
beeile dich
sagen konnte, und keine Minute später kam der Mann mit dem Opernglas aus dem Hotel heraus, einen Wochenendkoffer in der Hand, einen beinahe schon sommerlichen Strohhut auf dem Kopf, feste Schuhe an den Füßen. Er sah aus, als wollte er eine Landpartie machen.
    Charlie sah sich nach Willem um, doch der war natürlich noch nicht wieder in Sicht. Sollte er auf ihn warten? Aber er durfte auch den Mann mit dem Opernglas nicht verlieren. Eben stieg er in eine der Kutschen, die vor dem Hotel auf Kundschaft warteten.
Ich werde Henriette im Auge behalten
, hatte er zu Frau Keller gesagt.
    Wenn Hetti nicht bei ihrer Mutter war und wenn er sie im Auge behalten wollte, dann war er möglicherweise unterwegs, um genau das zu tun. Charlie entschied sich für den Mann mit dem Opernglas. Willem würde er später treffen, der Junge war nicht dumm, er würde sich mit Frau Liese selbst zu helfen wissen.
    «Folgen Sie dem Wagen vor uns», befahl Charlie knapp, als er in die Kutsche hinter der des Mannes mit dem Opernglas einstieg.
    Der Kutscher brummte ein wenig, tat aber, was Charlie verlangte.
    Die Fahrt ging zum Lehrter Bahnhof; ein zwei Stockwerke hoher Torbogen, ganz mit Bleiglasfenstern gefüllt, machte den größten Teil der Frontfassade aus, und einen Moment lang war Charlie von der Architektur aus Stein und Glas so eingenommen, dass er die andere Kutsche aus den Augen verlor. Er besann sich, fand sie wieder, der Mann mit dem Opernglas stieg aus und bezahlte die Fahrt. Sie waren noch hundert Meter entfernt, der Mann mit dem Opernglas betrat die Bahnhofshalle, achtzig Meter.
    «Schneller, er entwischt!», rief Charlie dem Kutscher zu, doch der ließ sich nicht hetzen.
    Charlie sprang aus der Kutsche und rannte los, ohne zu bezahlt zu haben.
     
    So schnell konnte der Mann mit dem Opernglas doch nicht in einen Zug gestiegen sein. Charlie blickte sich hektisch in der lichtdurchfluteten Bahnhofshalle um. Auf Gleis eins fuhr brodelnd und fauchend ein Zug ein, und gleich darauf ein weiterer auf Gleis vier. Von dem Mann mit dem Opernglas keine Spur. Charlie hatte keine Zeit zu verlieren, er musste es drauf ankommen lassen.
    Zuerst Gleis eins. Charlie arbeitete sich an der Lokomotive vorbei durch Dampfschwaden und den Gestank von heißem Öl. Türen wurden geöffnet, Menschen schoben Koffer in die Waggons, kletterten hinterher, reichten Kinder hinauf und halfen den Damen, die achtsam die Röcke rafften. Charlie lief das Gleis auf und ab. Doch der Mann mit dem Opernglas war nirgends zu sehen.
    Erst als er sich umdrehte, entdeckte Charlie ihn. Er stand auf Gleis vier, zwischen ihnen zwei leere Gleise. Der Mann lächelte Charlie über den Graben hinweg an, zog den Hut und stieg in aller Ruhe in seinen Zug.
    Der Sprung ins Gleisbett war tiefer, als es von oben ausgesehen hatte. Charlies Knöchel knickte um, der Schmerz schoss ihm bis ins Knie hinauf, und obwohl er ihn ignorierte, kam er zu langsam voran, stolperte zu unbeholfen über Schienen und Schotter. Er packte die Kante von

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