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Kaltes Herz

Kaltes Herz

Titel: Kaltes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Freise
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Bahnsteig vier, schob einen Ellenbogen hoch, schwang ein Bein hinterher und versuchte, sich hochzuziehen, während der Zug fauchte und anruckte. Hände packten Charlie unter den Achseln, zogen ihn hoch, zwei Männer in Uniformen, wahrscheinlich Bahnhofspersonal.
    «Danke», stieß er hervor und rannte mit verstauchtem Knöchel los.
    Der Bahnsteig war in ein ätzendes Gemisch aus Kohlenqualm und Dampf gehüllt, es stank nach Koks und Asche, und lange bevor Charlie wieder freie Sicht hatte, war der Zug schon außer Reichweite. Er blieb stehen, biss die Zähne gegen den Schmerz zusammen.
    «Wohin fährt dieser Zug?», rief er den beiden Uniformierten zu, die weiter vorne auf dem Bahnsteig standen und ihn in aller Ruhe betrachteten und abzuschätzen schienen.
    «Hannover», antwortete einer. «Aber Sie wissen, dass das verboten ist, was Sie getan haben? Wir könnten Sie dafür festnehmen.»
    Charlie hatte immer noch Mühe, genügend Luft in seine Lungen zu bekommen.
    «Ich bin in einer staatsdienstlichen Angelegenheit unterwegs.»
    Diesmal erfüllte seine Lüge einen wirklichen Zweck, die beiden Uniformierten wechselten zu einer diensteifrigen Körperhaltung.
    «Haben Sie einen Asiaten mit einem Strohhut in den Zug steigen sehen?»
    Die Vorstellung von einem bedrohlichen Asiaten auf der Flucht beeindruckte die beiden Männer offenbar so sehr, dass sie augenblicklich stramm standen.
    «Bedaure, nein. Sie könnten aber die Kollegen an den Fahrkartenschaltern vernehmen. Vielleicht erinnert man sich dort an ihn.»
    «Das werde ich tun», sagte Charlie.
    Die Uniformierten begleiteten ihn zum Schalter und standen als Sekundanten rechts und links hinter ihm, als wollten sie seinen Fragen mehr Gewicht verleihen. Nur nützte es nichts. Niemand erinnerte sich an einen fremdländisch aussehenden Fahrgast.
    Charlie bedankte sich und verließ den Bahnhof, humpelte über die Straße, stützte sich auf das Geländer der Moltkebrücke und blickte auf das rasch fließende Wasser und einen vollbeladenen Kohlenkahn hinab. Er lag so tief im Wasser, eine kleine Welle würde genügen, dass er volllief und innerhalb von Minuten versank. Charlie wartete, bis der Kahn unter ihm im Schatten der Brücke verschwunden war. Dann machte er sich auf den Heimweg. Vielleicht war Willem ja erfolgreicher gewesen.

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    8
    H enriettes Gesicht war so geschwollen, dass sie den Mund nur wenige Millimeter weit öffnen konnte. Tante Johanne stand vor ihrem Bett, die Arme vor dem fülligen Busen verschränkt, die Stirn gerunzelt.
    Hinter ihr stand Ida, abwartend, auch sie runzelte die Stirn, doch während Johanne ungehalten wirkte, stand in Idas Zügen Besorgnis.
    «Soll ich gleich in die Stadt fahren und Doktor Pfeiffer benachrichtigen?», fragte sie. «Oder reicht es, wenn wir auf Heinz warten und nach ihm schicken lassen?»
    Tante Johanne schüttelte unwirsch den Kopf.
    «Weder – noch, wir brauchen den Arzt nicht. Geh runter und schöpfe eine Tasse Brühe aus dem großen Topf, ohne Einlage. Und bring den Zuckerlöffel aus der Dose mit.»
    «Was hat sie denn?»
    «In der Stadt scheinen sie für alles länger zu brauchen. Ihr hattet das durch, bis ihr zehn wart.»
    «Was ist es denn?»
    «Ziegenpeter. Maria hatte es erst um Weihnachten herum, weißt du nicht mehr?»
    Ida nickte. «Doch, sicher. Arme Hetti.»
    «Nun geh schon.»
    Ida eilte hinaus, und Henriette hörte sie die Treppe ins Erdgeschoss hinabpoltern. Sie fühlte sich elend. Was bedeutete Ziegenpeter? Und warum hatte Ida ein so mitleidiges Gesicht gemacht?
    Tante Johanne stand unverändert neben dem Bett, starrte auf sie hinab wie auf ein misslungenes wissenschaftliches Experiment, und Henriette konnte ihrer Tante nicht in die Augen blicken, ohne eine unerklärliche Scham für ihren Zustand zu empfinden.
    Vorsichtig, um den Schmerz in der Halsmuskulatur in erträglichen Grenzen zu halten, drehte sie den Kopf auf dem Kissen und blickte aus dem Fenster in den grellen, weißwolkigen Morgenhimmel hinauf.
    Eine Ewigkeit verging schweigend, und endlich kam Ida zurück, die Tür mit dem Ellenbogen öffnend, eine dampfende Schüssel in den Händen balancierend.
    «Ist ein bisschen voll geworden», sagte sie atemlos, stellte die Schüssel auf den Waschtisch und leckte sich übergeschwappte Brühe von den Fingern. Sie sah aus wie ein rotes Kätzchen, das mit den Pfoten im Sahnetopf erwischt worden war.
    «Wenn du mit Füttern fertig bist, komm in die Küche und hol den Schmalzwickel»,

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