Kaltes Herz
die ungenutzt verstrich, fühlte er den Abstand zwischen ihr und sich größer werden.
Charlie brauchte zehn Sekunden, um Hut und Jackett zu greifen, Frau Liese einen Kuss auf die Wange zu drücken und das Haus zu verlassen.
Charlie nahm die Treppe ins erste Obergeschoss der Brüderstraße Nummer sieben im Laufschritt. Jetzt, da sich Rauch und Zorn ein wenig gelegt hatten, würde Frau Keller vielleicht doch mit ihm reden. Er musste es einfach versuchen. Und wenn nicht … Nun, das würde sich alles ergeben.
Charlie hatte die Hand schon an der Klingel, als er aus der Wohnung Stimmen vernahm, die sich der Tür näherten. Er hielt inne.
«Ich habe ein Auge auf Henriette, aber Sie werden Ihre Schwester selbstverständlich weiterhin im Unklaren über meine Beteiligung an dieser Sache lassen. Wenn Sie sich daran halten, bekommen Sie auch weiterhin Ihren Wechsel.»
«Und wenn nicht?»
Frau Keller klang, als hätte sie geweint.
«Dann wird unser aller Leben in recht große Unordnung geraten, fürchte ich.»
Charlie kannte die Stimme, und sein Herz begann schneller zu schlagen. Leise, Herz, ich muss doch hören, was gesprochen wird!
«Sie verstehen, was ich damit sagen will?»
«Selbstverständlich», sagte Frau Keller.
«Dann auf Wiedersehen in einem Monat.»
Charlie musste außer Sicht sein, bevor die Tür sich öffnete.
Er hastete die Treppe zum zweiten Obergeschoss hinauf, lauschte auf das Öffnen und Schließen der Tür, innerlich zerrissen zwischen Triumph und Angst. Er hatte es gewusst, er hatte gewusst, dass sich etwas ergeben würde. Aber was bedeuteten die Worte, die er gehört hatte? Was für eine Unordnung? Die Beteiligung an was für einer Sache? Was war mit Hetti geschehen?
Charlie wartete einen Moment, dann eilte auch er die Treppen hinab und verließ das Haus. Er hatte recht gehabt. Der Mann mit dem Opernglas hatte soeben das Haus verlassen und sich nach rechts gewandt, er lief am Schloss vorbei Richtung Linden. Dort hielt er eine Droschke an.
Charlie hielt sich im Hintergrund, nahm das nächste Fahrzeug und folgte ihm eine knappe Meile die Allee hinunter bis zum
Hotel Bauer
, das direkt über dem Café lag, in dem Charlie in der letzten Zeit so viele Stunden zugebracht hatte.
Selbstverständlich, wo sollte der Mann mit dem Opernglas auch sonst ein Zimmer nehmen als direkt gegenüber dem
Wintergarten
, wenn er Hetti beobachten wollte. Gleich am ersten Abend hatte Charlie ihn hier bereits stehen sehen. Er musste gewusst haben, dass Charlie im
Bauer
saß, er musste sich absichtlich seinen Blicken entzogen haben. Der Kassierer vom
Wintergarten
fiel ihm ein. Sicher hatte er die Rolle des Informanten gespielt. Aber im Grunde war das einerlei. Wichtig war, dass er den Mann mit dem Opernglas jetzt nicht wieder aus den Augen verlor, es waren heute viele Menschen unterwegs, und es war nicht leicht, ihn im Blick zu behalten.
Der Mann betrat das Hotel, und Charlie stand unschlüssig davor. Er bräuchte auch einen Informanten, jemanden, von dem der Mann mit dem Opernglas nichts wissen konnte. Willem fiel ihm ein. Sicherlich war er drüben im
Wintergarten
. Charlie schlängelte sich zwischen Kutschen, Automobilen und zwei Sechserbussen hindurch über die Friedrichstraße und lief direkt zum Bühneneingang. Er fand Willem zwischen den Kulissen, wo er das Weiß einiger Wolken mit frischer Farbe ausbesserte.
«Willem, schnell, ich habe einen Auftrag für dich!»
Der Junge stellte den Pinsel in ein Einmachglas, wischte sich die fleckigen Hände an der Hose ab und lief, ohne Fragen zu stellen, hinter Charlie her.
«Warte kurz», sagte Charlie vor dem Eingang des Hotels und betrat das Foyer, um in Erfahrung zu bringen, ob der Mann mit dem Opernglas noch da war.
«Sie wünschen?», näselte der Mann an der Rezeption.
Erst jetzt wurde Charlie klar, dass er ohne den Namen des Mannes schlecht nach ihm fragen konnte. Also lief er wieder hinaus zu Willem.
«Wie viel bekommst du im
Wintergarten
am Tag?»
«Zwei Sechser», sagte Willem. «Und Essen und einen Schlafplatz.»
«Von mir kriegst du drei. Und du bekommst ein richtiges Bett bei einer richtigen Wirtin.»
«Wo denn?»
«Zu Fuß eine Stunde von hier, in Weißensee.»
«Was muss ich tun?»
«Du wirst Geheimagent.»
Zu irgendwas musste die dumme Idee, mit der er Hetti zu beeindrucken versucht hatte, schließlich gut gewesen sein.
Willems Augen weiteten sich, aber er blieb aufmerksam.
«Kennst du die Brüderstraße?»
Willem nickte.
«Hausnummer
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