Kaltes Herz
Berlin und Sie wüssten möglicherweise, wo sie zu erreichen sei.»
Altheim schüttelte den Kopf. Seine hellblauen Augen wirkten wässrig.
«Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht weiterhelfen. Ich unterrichte Fräulein Keller nicht mehr.»
Er wollte die Tür schon wieder schließen, doch Charlie hielt sie fest.
«Bitte, Professor. Es ist wichtig.»
Der alte Mann schaute ihn an. Dann winkte er Charlie in seine Wohnung.
«Sie sind Brite?»
«Ja.»
Charlie befand sich in einem langen Wohnungsflur, dessen Wände bis zur Decke mit Büchern vollgestellt zu sein schienen. Er sah sich vergeblich nach einer Garderobe um, und Altheim schien ihm weder Hut noch Mantel abnehmen zu wollen.
«Dann trinken Sie Tee?»
Das ist nicht nötig, wollte er sagen, entschied sich dann aber anders. Eine Tasse Tee würde sein Aufenthaltsrecht hier möglicherweise verlängern.
«Ja, vielen Dank.»
Altheim lotste Charlie in einen kleinen Salon und räumte einen Stapel Notenhefte von einem Sessel auf den Teetisch.
«Bitte, setzten Sie sich.»
Dann verschwand er durch eine andere Tür in den Tiefen seiner Wohnung, die auf merkwürdige Weise über Eck gebaut zu sein schien.
Charlie legte Hut und Mantel auf die Sessellehne und sah sich um. Im Salon war es hell, obwohl überall dicke Teppiche lagen und sogar die Wände damit bedeckt waren. Auf Tischen und Sesseln lagen überall Noten verteilt, sowohl handgeschriebene als auch gedruckte, und auf dem Flügel in der Mitte des Raumes stapelten sich Hefte und Bücher zwischen gebrauchten Tassen, Nippes und Kerzenleuchtern. Es herrschte heilloses Chaos, aber immerhin war die Luft frisch und kühl, denn die Fenster standen weit offen. Als Charlie sich kurz hinausbeugte, sah er unten Willem stehen, den Blick auf die Fenster gerichtet. Er nickte ihm unmerklich zu und zog sich wieder auf den Sessel zurück, den Altheim ihm zugewiesen hatte. Er nahm ein paar Blätter vom Teetisch, eine Partitur mit kompletter Orchestrierung, und schaute nach dem Komponisten, doch es stand kein Name darüber, und überhaupt war es ein Blatt irgendwo aus der Mitte und nicht der Anfang der Komposition. Charlie legte die Seiten zurück. Nicht dass Hettis Gesangsprofessor noch auf die Idee kam, er hätte die Seiten in Unordnung gebracht.
«Wollen Sie mit Fräulein Keller arbeiten?», sagte Altheim, als er zurückkam. Er stellte eine Teekanne und zwei Gedecke zwischen den Noten ab.
Charlie hatte es versäumt, sich eine schlüssige Geschichte zu überlegen. Wenn nicht ausgerechnet heute Mittwoch gewesen wäre, hätte er sich einen Tag Zeit genommen, sich auf diesen Besuch vorzubereiten. Aber da ihm diese vage, noch kaum zu greifende Idee erst vor zehn Minuten gekommen war, blieb ihm nichts übrig, als zu improvisieren.
«Ja.»
«Haben Sie sie denn gehört?»
«Das habe ich.»
«Und was halten Sie von ihr?»
«Meiner Meinung nach ist sie ein einmaliges Talent, so jemand wird nur einmal in hundert Jahren geboren.»
Altheim nickte still vor sich hin. Dann besann er sich und schenkte kaffeeschwarzen Tee ein, bevor er aufstand, um zwischen den Blättern auf dem Flügel zu kramen.
«Ah. Hier ist er ja. Lesen Sie», sagte er und reichte Charlie ein einzelnes Blatt.
«Von ihrer Mutter?!»
Charlie hätte beinahe gelacht. Seit Tagen versuchten Sie, an Ada Kellers Post heranzukommen, und jetzt drückte ihm Altheim einfach einen Brief von ihr in die Hand.
… möchte ich Sie unterrichten, dass meine Tochter keine weiteren Gesangsstunden nehmen wird, da sie ihrer angegriffenen Gesundheit wegen ihre Gesangskarriere nicht weiter verfolgen kann. Ich möchte Ihnen für Ihre bisherigen Bemühungen danken und verbleibe …
«Aber das kann doch nicht sein!» Der Brief war eine Enttäuschung. «Glauben Sie das?», wollte Charlie von dem alten Mann wissen.
«Dass sie das Singen aufgegeben hat?»
«Dass sie zu krank ist, um zu singen.»
Der Alte zog die Schultern hoch und ließ sie wieder fallen. «Ihre Stimme war letzthin ein wenig angegriffen. Aber von einer schlimmen Krankheit weiß ich nichts. Ich kann nur annehmen, dass es eine Ausrede ist.»
Das hoffte Charlie allerdings auch.
«Sie sind wütend», stellte Altheim fest.
«Einer solchen Mutter müsste man verbieten, Entscheidungen für ihr Kind zu treffen! Es ist ein Verbrechen!»
Hetti musste singen, das war eine kosmische Notwendigkeit. Wie konnte Frau Keller es wagen, dem Schicksal in die Quere zu kommen?
Altheim nahm einen Schluck aus seiner Teetasse und trank
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