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Kaltes Herz

Kaltes Herz

Titel: Kaltes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Freise
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entkommen. Willem wartete auf der anderen Straßenseite, dass Frau Keller im Gebäude verschwand, bevor er ihr weiter folgte. Er stellte sich an die Straße, schaute beiläufig in verschiedene Richtungen, die Hände in den Taschen, als würde er auf jemanden warten. Beinahe hätte er den Moment verpasst, in dem Frau Keller am Eingang des Postfuhramtes vorbei und dann weiter die Artilleriestraße hinaufging. Erst jetzt sah Willem, dass dort, wenige Meter vom Eingang entfernt, ein nagelneuer, kornblumenblauer Postbriefkasten stand, stramm und eckig wie ein Soldat, mit einem goldenen Knauf auf dem Dach und einem Adler auf der Brust. Der war gestern noch nicht hier gewesen. Willem lief über die Straße, ohne auf den Verkehr zu achten. Wenn er Frau Keller den Brief wegnehmen wollte, musste er es jetzt tun. Er musste an ihr vorbeirennen, ihr den Brief aus der Hand reißen, weiterrennen … wenn er jetzt schneller rannte, konnte er es schaffen … Frau Keller hob die Briefkastenklappe, es sah aus, als würde sich der Schnauzer des Postkastens sträuben, und dann, bevor Willem Frau Keller erreicht hatte, fraß der Kasten den Umschlag, verschlang ihn ohne Kauen, und Frau Keller drehte sich um. Willem konnte nicht schnell genug ausweichen und prallte mit ihr zusammen, trat ihr mit seinen staubigen Sohlen auf die blank polierten Schuhe.
    «Entschuldigung», murmelte er und wollte sich an ihr vorbeischieben, weiter die Artilleriestraße hinauf.
    An ihrem Blick, missbilligend und ein wenig eindringlicher, als man das bei einem zufälligen Zusammenstoß auf der Straße erwarten sollte, merkte er, dass sie ihn erkannt hatte. Vielleicht hatte sie ihn schon aus dem Fenster ihrer Wohnung gesehen, wenn er vor dem Haus Wache stand.
    Willem setzte sein schönstes Lächeln auf, zog die Mütze und sagte, diesmal betont höflich: «Einen schönen Tag noch, Frau Keller.»
    Wenn er Glück hatte, dachte sie, sie müsse sich erinnern, wo sie sich kennengelernt hatten, das war besser, als wenn sie misstrauisch würde. Frau Keller lächelte unsicher zurück, drehte sich aber noch einmal nach ihm um, bevor sie ihre Schritte beschleunigte und Richtung Bodemuseum davonging. Willem blieb vor dem Briefkasten stehen, wartete, bis sie außer Sicht war.
    Der Kasten war aus Eisen, die Oberfläche mit noch mehr Eisen verziert, Kreise, Rauten, Flügelstäbe, Schlangen, Kronen. Es war mehr eine Säule als ein Gefäß, mit Piedestal und Kapitell und so massiv, dass man ein Haus damit stützen könnte. Niemand befand sich in unmittelbarer Nähe. Ein schneller Griff, die Hand passte durch den Briefschlitz, ließ sich weiter hineinschieben, bis zur Mitte des Unterarms. Doch sie bekam nichts zu fassen, keinen Zipfel Papier.
    Willem zog die Hand wieder heraus.
    Irgendwo musste der Kasten eine Klappe oder Tür haben, wo man die Briefe herausholen konnte. Doch obwohl Willem ihn von oben bis unten abtastete, konnte er den Mechanismus nicht entdecken. Er musste in dem ganzen Zierrat versteckt sein, wahrscheinlich genau aus dem Grund, damit man nicht so leicht an den Inhalt herankommen konnte. Genau genommen war das Ding eine Festung, und Willem wünschte sich, er könnte ihr einen kräftigen Tritt verpassen, ohne Aufsehen zu erregen. Aber das würde auch nichts nützen. Besser, er machte sich auf den Weg zum Treffpunkt.
     
    Charlie schaute auf die Uhr, kurz nach zehn, wie immer. Nur sah Willem heute besonders schlecht gelaunt aus. Er nahm seine Aufgabe sehr ernst, und offenbar wurmte es ihn, dass sie bisher keinen rechten Erfolg hatten. Charlie beunruhigte es ebenfalls, aber er bemühte sich, optimistisch zu bleiben. Wenn er selbst nicht daran glaubte, dass sie etwas Wesentliches herausfinden würden, dann konnte er es von dem Jungen auch nicht erwarten.
    «Sie hat wieder einen Brief abgeschickt», sagte Willem zur Begrüßung und ließ sich auf den Stuhl Charlie gegenüber fallen. Er nahm die Mütze vom Kopf und legte die Ellenbogen auf den Tisch.
    «Du bist hier nicht zu Hause, Willem», sagte Charlie ruhig.
    Willem besann sich und setzte sich anständig hin.
    «Hast du diesmal rausgekriegt, an wen?»
    Er schüttelte den Kopf.
    «Hab ihn nicht zu sehen gekriegt. Sie haben einen neuen Postbriefkasten, da hat sie ihn versenkt, bevor ich auch nur in der Nähe war.»
    Charlie winkte dem Kellner, damit er Willem seine übliche Tasse heiße Schokolade brachte.
    «Verstehe.»
    Es musste doch möglich sein, an einen dieser Briefe heranzukommen. Immerhin schickte sie jeden

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