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Kaltes Herz

Kaltes Herz

Titel: Kaltes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Freise
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Tag einen ab.
    «Wir müssten sie direkt im oder vor dem Haus abfangen», überlegte er laut. Aber das würde einem Überfall gleichkommen. Charlie seufzte.
    «Sonst irgendwelche neuen Erkenntnisse?»
    Willem zuckte die Achseln.
    «Neu nicht, aber … ich wollte noch mal sagen, das Dienstmädchen hat mittwochs frei.»
    «Stimmt.»
    Heute war Mittwoch.
    «Sie ist letzte Woche erst Donnerstag früh zurückgekommen.»
    Charlie nickte, zog einen Zettel aus der Jacketttasche, entfaltete ihn und betrachtete den Wochenplan, den sie im Lauf der letzten Tage nach und nach erstellt hatten. Er musste nachdenken.
    «Und Frau Keller bringt ihre Briefe immer selbst weg?»
    «Immer.»
    «Und sie hat ihrerseits immer noch keinen Brief bekommen?»
    Willem schüttelte den Kopf.
    «Nichts.»
    «Wenn sie ihrer Tochter schreibt, dann sollte man doch meinen, dass sie auch zurückschreibt, oder nicht?»
    Der Kellner brachte Willems Schokolade, und der Junge schlürfte vorsichtig von dem dampfenden Getränk, bevor er antwortete.
    «Vielleicht kann sie gar nicht schreiben?»
    Charlie musste lachen.
    «Natürlich kann sie schreiben. Sie ist eine Tochter aus gutem Hause, die Mutter hat Geld. Wahrscheinlich hat sie einen Hauslehrer.» Charlie hielt inne. «Oder hatte einen.»
    «So meinte ich es auch nicht.»
    «Wie meintest du es denn?»
    «Na, vielleicht lässt man sie nicht», sagte er und verbrühte sich die Lippen an der Schokolade.
    Charlie sah aus dem Fenster, betrachtete die Leute, die vorbeiflanierten, die Damen mit bunten Schirmen, die an ihren Armen baumelten, die Herren mit schwarzen Schirmen. Das Wetter war immer noch unstet, und Sonnenschein und Regen wechselten einander ab, als ob der April dieses Jahr beschlossen hatte, bis in den Juni anzudauern.
    Der Gedanke, dass irgendjemand Hetti am Schreiben hindern könnte, war beklemmend, und Charlie wollte ihn von sich weisen. Doch Willem hatte recht, man musste jede Möglichkeit in Betracht ziehen.
    «Ich werde zu ihrem Gesangslehrer gehen. Ich habe eine vage Idee, einen Plan vielleicht.»
    «Gut! Was ist das für ein Plan?»
    «Das sage ich dir, wenn ich es genauer weiß.»
    «Kann ich mitkommen?»
    «Und was ist mit Frau Keller?»
    «Die läuft uns doch nicht weg!»
    «Und wenn gerade heute der Mann mit dem Opernglas zurückkommt?»
    Willem wollte etwas erwidern, nickte dann aber. Er wirkte enttäuscht.
    Charlie stand auf. «Trink aus, ich muss gehen.»
    Willem trank und wischte sich anschließend die Schokolade mit dem Ärmel vom Mund wie ein Kleinkind.
    Charlie musste sich zusammennehmen, um den Jungen nicht ständig zurechtzuweisen. Der Unterschied zwischen Charlie und anderen ehemaligen Straßenkindern war, dass seine Mutter ihm vor ihrem Tod Manieren beigebracht hatte, an die er sich sein ganzes Leben gehalten hatte. Es war wichtig, auch unter schwierigen Umständen, seine Würde zu bewahren.
    «Also dann, wir sehen uns zu Hause», sagte Willem. «Bei Frau Liese.» Er war offensichtlich stolz darauf, ein Zuhause zu haben.
    «Warte!» Charlie war sich nicht sicher, wie Hettis Gesangsprofessor auf einen abgerissenen Jungen reagieren mochte, aber dennoch …
    «Ich kann dich vielleicht doch gebrauchen.»
    Als er Willems Grinsen sah, spürte er eine Welle der Zuneigung und eine Verantwortung für diesen im Grunde fremden Jungen, stärker als es ihm lieb war. Er wollte ihm helfen.
    «Hetti, was hast du bloß mit mir gemacht?», murmelte er.
    «Wieso Hetti?»
    «Das verstehst du noch nicht.»
    «Ach, darum.»
    Willem schlang die Arme um seinen Oberkörper und machte laute Kussgeräusche.
    «Lass das», zischte Charlie und zahlte. «Du kannst mitkommen, aber du musst draußen warten.»
    Als Willem nickte, setzte er hinzu, «du warnst mich, falls der Mann mit dem Opernglas auftauchen sollte.»
    Er glaubte zwar nicht, dass das geschehen würde, aber warum sollte er mutwillig die Hoffnung zerstören?
     
    Professor Altheim öffnete, nachdem es einen Moment lang dunkel hinter dem Spion in seiner Tür geworden war. Vor Charlie stand ein alter Mann mit zittrigen Händen, doch seine Stimme war voll wie die eines Mannes in den besten Jahren.
    «Ja, bitte?», sagte er.
    «Professor Altheim?»
    «Steht vor Ihnen.»
    «Mein Name ist Charles Jackson. Ich … komme aus London, vom
Alhambra
. Ich würde mit Ihnen gerne über Ihre Schülerin Henriette Keller reden. Hoffentlich verzeihen Sie, dass ich mich so unangemeldet an Sie wende, doch im
Wintergarten
hat man mir gesagt, sie sei zurzeit nicht in

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