Kaltes Herz
gesehen wurde. Sie tat nichts Verbotenes, doch sie wollte sich einfach nicht rechtfertigen müssen, wollte einfach mit niemandem reden.
Henriette schlang sich ihr Wolltuch fest um die Schultern und trat in den Hof hinaus. Die Luft war schneidend kalt, aber der Himmel war klar. Vielleicht würde es heute einen Sonnentag geben. Henriette wandte sich nach rechts.
Sie war bereit zu glauben, dass es nichts Schlechtes war, was sie und Ida getan hatten. Dennoch fühlte sie sich elend, leer, reuevoll. Es war, als ob diese Empfindung, in die Ida sie eingeführt hatte, ein schmerzvolles Übermaß an Realität erzeugte. Sehnte Charlie sich nach derselben Berührung wie sie? Henriette ging durch die Lücke zwischen Waschhaus und Westflügel hinaus auf den Feldweg hinter dem Pflog-Hof, wandte sich nach links, Richtung Wald. Sie dachte an den Kuss in dem Zelt, dachte daran, wie Charlie sie von sich geschoben hatte. Vielleicht war es nicht das, was er für sie empfand, vielleicht stieß sie ihn sogar ab mit ihrem Verlangen?
Der Gedanke ließ sie stehen bleiben. Sie könnte umkehren, sich wieder hinlegen, weiterschlafen. Am besten so lange, bis Charlie endlich kam, um sie zu holen. Wie lange konnte es dauern, bis er den Brief bekam? Und wenn er ihn bekam, würde er zögern? Oder ihren Hilferuf gar ignorieren? Henriette ballte die Hände zu Fäusten, schritt weiter aus. Die kalte Morgenluft griff in ihr Haar, biss ihr in die Wangen, der Waldrand rückte näher, und seine Düsternis erinnerte sie daran, wie sie sich als Kind manchmal gefühlt hatte. Wenn sie zu Hause mit Mutter am Tisch gesessen und Mohnkuchen gegessen hatte oder abends am Herd, und sogar wenn sie spielte oder lachte, konnte es plötzlich sein, dass sie einen Blick auf etwas erhaschte, das jenseits von Kuchen, Wärme oder Spiel lag. Etwas Dunkles. Dann hielt sie inne, überwältigt von Heimweh, obwohl sie wusste, dass sie bereits zu Hause war und dass es keinen anderen Ort dieses Namens gab. Es war hoffnungslos. Wenn sie so empfand, konnte sie nichts essen, weil ein Schuldgefühl ihr, manchmal für Tage, die Kehle zuschnürte. Als ob ihr nicht zustand, was sie hatte. Aber sie hatte nichts getan, um sich schuldig zu fühlen, nichts, von dessen Verwerflichkeit sie gewusst hätte. Sie lebte, sie lernte, sie sang. Sie war freundlich, zuvorkommend, hilfsbereit. Der Lehrer lobte sie, Mutter umhegte sie. Sie war sich keiner anderen Sünde bewusst, als … ja, dieser Sehnsucht, dieses Begehrens nach … mehr. Mehr! Wovon auch immer.
Erneut blieb Henriette stehen, presste die Handballen auf die Augen, bis bunte Blitze im Schwarz zu tanzen begannen. Sie fühlte sich wie in einer Zwischenwelt gefangen, sie war nicht Kind, war es auch irgendwie nie gewesen. Aber erwachsen war sie auch nicht, würde es vielleicht niemals sein. Dann fiel ihr ein, was sie geträumt hatte. Sie war nicht allein gewesen, sie war ohne Worte verstanden worden. Charlie war dort gewesen, und das Gefühl hatte sich vertieft bis zu einem Grad der Ruhe und Absolutheit … Das war es, wovon sie aufgewacht war. Henriette nahm die Hände von den Augen. Es gab nichts auf der Welt, was ihr dieses Gefühl zurückbringen konnte, das sie in Charlies Armen empfunden hatte. Es war viel tiefgehender als die Aufregung, die sie mit Ida erlebt hatte, kostbarer. Und vielleicht existierte es in Wirklichkeit gar nicht.
Es hatte keinen Sinn, darüber nachzudenken. Sie musste einfach gehen, und je schneller sie ging, desto mehr ließen die Gedanken nach. Zarte Melodieschleier zogen ihr durch den Kopf, unfertig noch, zerbrechlich. Wenn sie zu genau hinhörte, dann versteckten sie sich an den Rändern ihres Bewusstseins, aber wenn sie sich aufs Gehen konzentrierte, dann war es … eine Art Hymne.
Wenn wir vermissen, um was wir nicht wissen
… irgendetwas mit Kindern, die den Weg nach Hause nicht mehr finden können. Wenn sie noch ein wenig schneller ausschritt, dann kamen Melodien und Worte schneller und deutlicher. Henriette wünschte, sie hätte ein Piano hier, um auszuformen, was zu ihr kam, und Notenpapier, um es aufzuschreiben.
Dann begann der Wald. Hellgrüne Blätter schälten sich aus den Zweigen hervor, und es roch faulig nach dem Laub vom Vorjahr. Schnell wurde der Weg schmaler, wand sich um sumpfige Tümpel herum und tiefer in den Wald hinein.
Die Frische, die Henriette sich zwischen den grün werdenden Bäumen erhofft hatte, blieb aus. Die Luft stand, der Wald wirkte leer und nass, und ihre Schuhe wurden immer
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