Kaltes Herz
zufälliger Klang, sondern Musik. Die Folge der Jahreszeiten, das Pulsieren des Herzschlags, das Schlagen der Flügel, wenn eine Schar Tauben von der Straße aufflog, die Meeresgezeiten … Das alles war Musik, Rhythmus. Wenn sie sang, bedeutete das, der Schöpfung nahe zu sein. Und die Hölle, das war nichts weiter als die Abwesenheit von Musik.
«Ich glaube jedenfalls nicht, dass er etwas dagegen hat», sagte Ida. «Sonst hätte er uns doch nicht so … gemacht, oder?»
Henriette nickte. In dem Pulsieren, das sie fühlte, in den Wellen des Gefühls, das sie umspülte, im beschleunigten Schlag ihres Herzens, da lag ebenfalls jener Rhythmus, den man Leben nannte.
«Und was war es nun, das der Lehrer mit Emily getan hat?»
«Willst du es sehen?»
Ohne eine Antwort abzuwarten, schlug Ida das Buch wieder auf und blätterte darin.
«Hier.»
Auf der Seite, die Ida ihr zeigte, war ein Kupferstich zu sehen.
Zwei Menschen, nackt, eine Frau, die in einem Sessel lag, die Beine links und rechts über die Armlehnen gelegt, und vor ihr kniete ein Mann. Etwas Großes ging von seinem Körper aus und verschwand zwischen ihren Beinen. Auf den Gesichtern der beiden lag ein seliger Ausdruck.
Henriette schnappte nach Luft, als ihr Unterleib sich zusammenzog.
«Was ist das?»
«Es ist … sein Geschlecht. Es hat verschiedene Namen. Schlange oder Knüppel. Oder Glied. Es reckt sich auf, und dann steckt er es in das Geschlecht der Frau, und dann geht es immer rein und raus irgendwie, und irgendwann … puff!»
Ida machte eine große Geste.
Das also war es, was Männer und Frauen hinter verschlossenen Türen taten? Das war es, was Charlie mit anderen Frauen getan hatte? Das war es, was er mit ihr tun würde, wenn sie … Henriette konnte es nicht zu Ende denken. Es ängstigte sie. Und zugleich steigerte es diese Unruhe, dieses Brennen.
Plötzlich schlang Ida die Arme um Henriette, drückte sich fest an sie.
«Ach, ich wünschte, Professor Regenmacher würde das mit mir tun!»
«Leise!», stieß Henriette hervor, in Gedanken ganz bei dem Rhythmus dessen, was Ida rein und raus genannt hatte.
Und dann, in plötzlichem Einverständnis, rutschten sie gemeinsam unter Henriettes Decke.
«Ich zeig dir, wie es geht», flüsterte Ida.
Dann glitt ihre Hand unter Henriettes Nachthemd, suchte und fand die Stelle zwischen ihren Schenkeln, die brannte und pochte.
«Siehst du, so.»
Die beiden Mädchen lagen nebeneinander, bewegungslos und still, bis Henriette eine heiße Welle überrollte und sie nicht anders konnte, als sich aufzubäumen. Einen Moment später geschah dasselbe mit Ida.
Dann war es vorbei. Ida lächelte.
«Siehst du?»
Henriette wusste nicht, ob sie weinen oder lachen wollte. Das war so mächtig gewesen, ein Geschenk. Und zugleich wusste sie, dass es ihr wie dem Mädchen aus der Erzählung ergehen konnte und dass sie an nichts anderes mehr würde denken können.
Sie fühlte, dass Ida unrecht hatte. Es war doch gefährlich. Ihr Leib hatte Charlie schon vorher begehrt, ohne dass sie es wusste. Aber jetzt wusste sie es, jetzt wusste sie, wonach sie sich sehnte, und mehr noch, sie wusste, wie man das Verlangen entfachte, wie man es nährte und steigerte. Und das würde Charlies Abwesenheit so unendlich viel schmerzhafter machen.
Ida schälte sich aus der verschwitzten Decke.
«Gute Nacht», sagte sie und kroch hinüber in ihr eigenes Bett, wo sie das Buch sorgfältig zwischen Bett und Wand hinabgleiten ließ.
«Gute Nacht», sagte auch Henriette.
Es schien keine Minute zu dauern, bis Ida eingeschlafen war.
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13
D as Licht war noch bleich, als Henriette am nächsten Morgen erwachte und zwischen den Gardinen hinaus auf die Straße spähte. Sie war noch nicht ganz wach, aber eine unbestimmte Traurigkeit ergriff von ihr Besitz, es fühlte sich an, als hätte sie etwas verloren, unwiederbringlich, als wäre jemand gestorben oder eine Welt für immer untergegangen. Henriette biss sich in die Hand, als ein Schluchzen in ihr aufstieg. Alles war durcheinander, Charlie, Ida. Was war gut, was war schlecht? Leise, weil sie Ida nicht wecken wollte, schlug sie die Decke zurück und stand auf. Sie musste allein sein, musste raus und sich bewegen.
Henriette schlich den Gang entlang, die Treppen hinunter. Ein Blick auf die Uhr in der Essstube sagte ihr, dass sie fast eine Stunde Zeit hatte, bevor die Mädchen aufstehen und sie vermissen würden. Aus irgendeinem Grund erschien es ihr besser, wenn sie nicht
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