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Kaltes Herz

Kaltes Herz

Titel: Kaltes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Freise
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große Kerzen brannten.
    «Emily, wo bleiben Sie?», hörte ich meinen Lehrer in strengem Ton rufen. «Sie kommen schon wieder zu spät zum Unterricht. Wenn Sie nicht gleich zur Stelle sind, werde ich Sie bestrafen müssen.»
    Gleich darauf trat eine junge Frau vor den Spiegel, ihre Haare fielen in langen Wellen über ihre Schultern, und sie begann damit, die Strähnen zu greifen und hochzustecken.
    Mein Lehrer trat herbei, griff in ihr Haar und bog mit festem Griff ihren Kopf zurück. «Sie wagen es, so unfertig zum Unterricht zu erscheinen?»
    Nie hatte mein Lehrer mich grob angefasst, und so war ich höchst erstaunt über sein Benehmen.
    «Sie sagten, ich solle sofort erscheinen, und so tat ich es.» Im Spiegel konnte ich das Lächeln sehen, das ihren Mund versüßte. «Wollen Sie das denn nicht von Ihrer Emily, dass sie schlampig ist?»
    «Nur damit ich Sie strafen kann», sagte er. «Sie wissen, dass Sie es verdient haben?»
    Sie schlug die Augen nieder. «Ja», hauchte sie.
    Emily kehrte mir den Rücken zu, beugte sich willfährig nieder über den Tisch, und mich überfiel es so ängstlich, dass meine Beine schlotterten. Ich sank auf die Knie. Als mein Lehrer ihre Röcke hob, muss ich für einen Moment ohnmächtig geworden sein, denn als ich meine Sinne wieder beieinanderhatte, sah ich die nackten Hinterbacken meines Lehrers sich vor und zurück bewegen, seine Hand war auf unerklärliche Weise zwischen ihren Schenkeln beschäftigt, und ihr Atemholen ward lauter und lauter.
    «Aber was tut er denn da?», rief Henriette aus.
    «Weißt du es denn nicht?»
    Henriette schüttelte den Kopf.
    «Und gefällt es dir?»
    Henriette wusste nicht, ob es ihr gefiel, aber sie wollte wissen, was es zu bedeuten hatte. Als Henriette nicht antwortete, las Ida weiter.
    Was ist das?, dachte ich. Was ist es?
    Diese Bewegungen, die Laute, ich spürte, dass das Feuer in mir sich dem Punkt näherte, an dem es in einem letzten, funkelnden Ausbruch verlöschen würden, hier, auf einem Gang in einem fremden Haus, die Augen dicht am Spalt einer unzulänglich verschlossenen Tür. Die Bewegungen meines Lehrers wurden schneller, und als Emilys Stöhnen in einem Schrei verebbte, geschah es auch mir.
    Schwer atmend trat mein Lehrer zurück. «Ich muss zurück in den Saal», sagte er und schloss seine Hosen.
    Auch ich musste fort, bevor er mich fand. Dass mich meine erhitzte Einbildungskraft in dieser Nacht nicht ruhen ließ, ist leicht zu erraten. Was war es nur, was hatte er ihr getan?
    Ida schlug das Buch zu und sah Henriette triumphierend an. Sie war eine gute Vorleserin, ihre Stimme war zusammen mit der der Figuren atemloser geworden.
    Henriette schluckte. Sie kannte die Gefühle, die in dieser Geschichte beschrieben wurden, wenn auch nicht in diesem überwältigenden Ausmaß. War es das, was sie empfunden hatte, als Charlie sie geküsst hatte, war es das, wonach ihr Leib verlangt hatte?
    «Ida, hast du schon einmal so etwas getan?»
    «Was meinst du, das, was die Erzählerin an sich selbst tut? Oder das andere, was der Lehrer tut?»
    «Beides.»
    «Nur das Erste.»
    «Und hast du schon einmal geküsst?»
    «Den Heinz, unsern Wäschefahrer.»
    «Und hast du dabei … etwas empfunden?»
    Ida schüttelte den Kopf.
    «Nein. Hast du schon mal?»
    «Ich habe den Mann geküsst, dem ich heimlich geschrieben habe.»
    «Und?»
    «Es war … es ist schwer zu beschreiben. Ich habe kaum Luft bekommen, es war fast schmerzhaft, und es hatte etwas … ich wurde plötzlich wie wild, ich habe mich wie ein Tier gefühlt, außer Kontrolle. Ich wollte … mein Leib … ich wusste nicht, was ich wollte. Aber was hier in dem Buch steht, ich glaube, das ist es, dieses Gefühl, dass nur Berührung das Brennen löschen kann.»
    «Und brennt es jetzt?»
    Henriette wagte es nicht, Ida anzusehen. Sie nickte.
    «Bei mir auch», flüsterte Ida.
    «Und du meinst … es hilft, wenn man …?»
    Ida nickte eifrig.
    «Und es ist nicht gefährlich?»
    «Ich glaube nicht. Mutter würde natürlich … Höllenfeuer, du weißt schon. Aber sie hält alles für Sünde, was nicht Beten und Arbeiten ist. Ich glaube nicht daran.»
    «Du glaubst nicht an Gott und den Teufel?»
    «An Gott schon. Glaube ich. Irgendwie. Aber nicht an den Teufel.»
    Henriette nickte. Etwas Ähnliches hatte auch sie schon gedacht. Tief im Innern spürte sie, dass die Welt nichts anderes als ein monumentales Symphonieorchester war und dass die Schöpfung in ihrer ursprünglichen Form Klang war, nicht bloß

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